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Alt 24-11-2004, 19:30   #1
Goldfisch
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Höllenfahrt in den Himmel (aus der MDZ)

Höllenfahrt in den Himmel
Vor 70 Jahren wurde ein Schiffsunglück zur Geburtsstunde eines Sowjetmythos

MDZ 24-11-2004
Höllenfahrt in den Himmel Tino Künzel



Bild: Archiv

Die „Tscheljuskin“ war ein Allerweltskahn und für Großtaten alles andere als prädestiniert. Dass ausgerechnet dieser Frachter die Eignung der Nordostpassage als Transportweg nachweisen sollte, endete nicht zufällig mit einer Katastrophe: Am 13. Februar 1934 sank das Schiff, nur ein Jahr nach seiner Indienststellung, im Eismeer. Trotzdem oder gerade deshalb gehörte es fortan zum sowjetischen Mythenschatz. Weil die Besatzung nach Wochen und Monaten des Campierens in der Arktis gerettet wurde, verwandelte sich das Fiasko in eine Heldensaga.

Tino Künzel

Die Sowjetunion in den dreißiger Jahren: Der erste Fünfjahrplan verlangt dem Volk ungeheure Kraftakte ab. Ein Industrieprojekt ist gewaltiger als das andere. In Moskau wird die Metro eröffnet und der „Palast der Sowjets“ als höchstes Gebäude der Welt geplant. Bei der Kollektivierung verhungern Millionen, in den Gulags schuftet ein Sklavenheer. Der „Aufbau des Sozialismus in einem Land“ nimmt keine Rücksicht auf Einzelschicksale.

Auch auf den Meeren sind die natürlichen Grenzen nicht mehr absolut. Im Geiste der Zeit werfen sich Opferbereitschaft und Fortschrittsglaube dagegen. Das Gebäude von Glawsewmorputi, der Hauptverwaltung des nördlichen Seewegs, wird von Tausenden belagert. Auf einen Platz in den Polarstationen kommen Hunderte Bewerber. Der Enthusiasmus ist kaum zu beschreiben. Und Stalin feuert die Massen weiter an: „Es gibt keine Festungen, die Bolschewiken nicht erstürmen könnten.“

Eine solche „Festung“ ist bis dahin auch das Eis der Nordostpassage zwischen Murmansk und Wladiwostok um ganz Sibirien herum. Doch 1932 gelingt es dem Eisbrecher „Alexander Sibirjakow“ erstmals, die über 10 000 Kilometer lange Route nonstop, das heißt ohne Überwinterung, zurückzulegen. Dass er sein Ziel nur schwer gezeichnet, mit beschädigter Schraube und dank improvisierter Segel erreicht, ist schnell vergessen. Jetzt soll die Nutzbarkeit der Verbindung für wirtschaftliche Zwecke bestätigt werden. Dass dafür nur ein gewöhnlicher Frachter von 7500 Tonnen zur Verfügung steht, ist dem Kreml sogar recht, denn Schiffe dieses Kalibers würden ja auch den Gütertransport zu bewältigen haben.

Als „Lena“ läuft der 90-Meter-Dampfer 1933 in Dänemark vom Stapel, wird in sowjetische Dienste gestellt und in „Tscheljuskin“ umbenannt. Die Vorbereitung des riskanten Unterfangens findet unter Zeitdruck statt, denn nur der Sommer eignet sich dafür. Das Kommando hat die Mannschaft der „Sibirjakow“: Expeditionsleiter ist erneut Otto Schmidt, der Chef von Glawsewmorputi, Kapitän Wladimir Woronin, Funker Ernst Krenkel. Woronin sträubt sich bis zuletzt. Ihm schwant, dass die Ambitionen unter diesen technischen Voraussetzungen völlig vermessen sind. In sein Tagebuch schreibt er: „Ich weiß, was mich erwartet und wie schwierig es wird, dieses Schiffchen durchs arktische Eis zu steuern.“

Am 16. Juli 1933 legt die „Tscheljuskin“ verspätet in Leningrad ab, mit 112 Besatzungsmitgliedern, Wissenschaftlern und Künstlern an Bord. Auf der Werft in Kopenhagen wird der Rumpf notdürftig verstärkt, was die Reise weiter verzögert, so dass die Expedition erst am 10. August in Murmansk startet. Bald schon ist der Kahn leckgeschlagen, Nieten platzen auf, das Ruder gehorcht schlecht. Doch die Schäden bleiben zunächst beherrschbar. Der Eisbrecher „Krasin“ leistet ein paar Meilen Schrittmacherdienste. Als der Ozean bereits fast zugefroren ist und Tschuktschen auf Hundeschlitten zu Besuch kommen, werden acht Passagiere aufs Festland abgesetzt.

Ab Oktober steckt die „Tscheljuskin“ im Eis fest, der geplante Halt auf der Wrangel-Insel zum Austausch der dortigen Stationsmitarbeiter fällt flach. Dafür driftet der Frachter glücklich in die richtige Richtung und erreicht Anfang November die Beringstraße. Bis zum offenen Meer ist es nur noch ein reichlicher Kilometer! Und ganz in der Nähe schiebt der Eisbrecher „Fjodor Litke“ Schicht, will schon entgegen eilen. Was soll jetzt noch schiefgehen? Die „Tscheljuskin“ lehnt Fremdunterstützung zweimal ab und hofft, es allein zu schaffen. Hinter vorgehaltener Hand wird später gemunkelt werden, Schmidt und Woronin hätten den Ruhm mit niemandem teilen wollen. Das treibt Schmidts Nachfahren noch heute zur Verzweiflung. Sein ältester Sohn Wladimir (84), Industrieprofessor in Moskau, zürnt: „Was für einen Ruhm denn? Wer wusste damals etwas von Ruhm? Die Fahrt der ,Sibirjakow‘ hatte niemandem Ruhm beschert.“

Als sich Wind und Strömung ändern, driftet die „Tscheljuskin“ weit in die Tschuktschensee zurück. Die Chancen zur Durchquerung der Beringstraße im selben Jahr sind damit gleich Null. Und am 13. Februar 1934 büßen die Menschen an Bord auch noch ihr Winterquartier ein: Von Eisschollen zermalmt, sinkt das Schiff binnen Stunden. Immerhin gelingt es, alle zu evakuieren – bis auf einen. Expeditionsmitglied Boris Mogilewitsch wird von Fässern erschlagen.

Die übrigen scheinen nicht viel besser dran: 150 Kilometer vom Ufer mitten auf dem Eis gestrandet, umgeben von tiefster Polarnacht und Temperaturen unter minus 30 Grad, droht die Arktis auch sie für immer zu sich zu nehmen. Krenkel stellt zumindest die Funkverbindung wieder her, in Moskau wird eine Regierungskommission gebildet. Von „Rettung“ ist zunächst nicht die Rede, sondern nur von „Hilfe“. In den Medien erscheinen die ersten Meldungen. Der Welt stockt der Atem.

Vor Ort ist es Schmidt, der den Lebensmut „seiner“ Leute ständig neu zu entfachen versteht. Er hält sie vom Trübsinn ab, sorgt für Beschäftigung, organisiert einen festen Tagesablauf. Notfallrationen und Treibstoff der „Tscheljuskin“, aber auch Vorräte und Baumaterialen, die für die Wrangel-Insel gedacht waren, kommen nun sehr gelegen. So entstehen neben Zelten eine Holzbaracke mit Kamin, eine Küche, eine Backstube. Den Speiseplan bereichert Bärenfleisch. Geistiges Futter spendiert Schmidt, damals 42 Jahre alt, durch Vorträge über dialektischen Materialismus, Literatur, Mathematik. Der Polarforscher, Gelehrte, Enzyklopädist, Alpinist und Marxist, mit deutschem Stammbaum in Mogilew geboren, gehört zu den vielseitigsten Begabungen seiner Zeit.

Neben dem „Lager Schmidt“ wird ein Flugfeld angelegt. Am 5. März landet dort der erste Pilot: Anatolij Ljapidewskij fliegt die zehn Frauen und zwei Kinder aus. Er und sechs weitere Flieger bringen in der Folge auch die restlichen „Tscheljuskinzy“ in Sicherheit, die letzten am 13. April. Schmidt wird wegen Lungenentzündung nach Alaska verschickt. In der Heimat waren sogar schon Gerüchte über seinen Tod kursiert, die dänische Zeitung „Politiken“ hatte ihm einen Nachruf gewidmet. Sohn Wladimir geriet in der Schule in Angst und Schrecken. Aber Schmidt lebte, wurde in den USA dann sogar von Präsident Theodore Roosevelt empfangen, langte in der Sowjetunion vor seinen Mitstreitern an. Die hatten sich zu Fuß und auf Schlitten nach Petropawlowsk auf Kamtschatka durchgekämpft, in Wladiwostok den Zug Richtung Westen bestiegen. Das ganze Land, von den Zeitungen wochenlang auf den Titelseiten informiert, steht ihnen Spalier. Die Ankunft in Moskau ist triumphal, auf der Fahrt vom Weißrussischen Bahnhof zum Roten Platz über die Twerskaja regnet es Papierschnipsel auf die offenen Limousinen. Und es regnet Auszeichnungen: Die sieben Rettungspiloten werden zu den ersten „Helden der Sowjetunion“. Den „Tscheljuskinzy“ ist der Orden „Roter Stern“ zugedacht. Das bewahrt einige nicht davor, später den „Säuberungen“ zu Opfer zu fallen. Schmidt und Woronin sind dafür möglicherweise zu bekannt – sie werden einmal eines natürlichen Todes sterben.

PS: Unter dem Titel „Tscheljuskin-70“ versuchte die bisher teuerste Unterwasser-Expedition in der Tschuktschensee Mitte August 2004 das legendäre Schiff zu orten. Trotz größtem Aufwand und Optimismus kehrte das Team ohne Erfolg nach Moskau zurück. Im kommenden Jahr soll die Suche ausgeweitet werden.
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"Es gibt tausende Möglichkeiten, sein Geld auszugeben, aber nur zwei, es zu erwerben: Entweder wir arbeiten für Geld oder das Geld arbeitet für uns."

Bernhard Baruch
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