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Alt 21-07-2006, 09:33   #2
Auf Wunsch gelöscht
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Nachbarn verwerten Nachbarn

Mit der systematischen Entrechtung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland ging ihre Verarmung einher. Hatten mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ schon Tausende ihre Arbeit verloren, wurden durch weitere gesetzliche Einschränkungen der Berufsausübung für jüdische ÄrztInnen, AnwältInnen, JournalistInnen und andere Freiberufler abermals Unzählige in den finanziellen Ruin getrieben. Durch den Ausschluss aus der deutschen Fürsorge waren viele auf die Unterstützung des 1933 gegründeten jüdischen „Zentralausschuss für Hilfe und Aufbau“ angewiesen.



Die Arisierungen so genannter jüdischer Betriebe in den Jahren 1937/38 machte die wirtschaftliche Lage für die jüdische Bevölkerung noch aussichtsloser. 1939 gingen noch nur 16% einer Erwerbstätigkeit nach. Nachdem beim Novemberpogrom 1938 neben vielen Synagogen auch 7000 Geschäfte zerstört und geplündert worden waren, wurden im Dezember 1938 die übrig gebliebenen Betriebe zwangsarisiert. Hinzu kam, dass die Opfer eine „Sühneleistung“ in Höhe von einer Milliarde Reichsmark zahlen mussten und ihre Versicherungsgelder zugunsten der Staatskasse eingezogen wurden. So konnte Anfang 1939 die „Entjudung der Wirtschaft“ als abgeschlossen erklärt werden. Wer keine Rücklagen oder Ersparnisse hatte, musste Zwangsarbeit leisten. Das hieß mindestens 10 Stunden schwere Arbeit bei geringer Entlohnung.



Die „Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden“ im Juni 1938 hatte nicht nur die Beschlagnahmung von Betrieben eingeleitet, sondern auch die Erfassung aller Wert- und Gebrauchsgegenstände. Nach Kriegsbeginn wurde die Ausplünderung systematisch auf dem Verordnungsweg betrieben. Radiogeräte, Pelz- und Wollsachen, Ski- und Winterausrüstung mussten abgeliefert werden, ab 1942 Fotoapparate, optische Geräte, Fahrräder, Schreib- und Rechenmaschinen.



Aber nicht nur der Staat bereicherte sich an den Entrechteten und Enteigneten. In unzähligen Auktionen wurden die vom Gerichtsvollzieher beschlagnahmten Wertsachen und Gebrauchsgegenstände für einen Spottpreis von vormaligen Nachbarn ersteigert. So wie die Eltern von Beate Niemann sich das Haus der Familie Leon erpresst hatten, verschafften sich Zig-tausende ihre Eigenheime, Mietshäuser, Teppiche, Kunstwerke, Antiquitäten von ihren bedrohten Nachbarn. „Aktion 3“ nannten die Nazis die Aneignung des Eigentums der jüdischen Bevölkerung. Bei Massenversteigerungen wurden Schlafzimmereinrichtungen ebenso wie Füllfederhalter, Rasierpinsel und Zahncreme von der lokalen Bevölkerung und ansässigen Betrieben ersteigert.



Mit der Eroberung weiter Teile Europas wurde der Raubzug in „Aktion M“ umbenannt. Ganze Wohnungseinrichtungen und Bibliotheken wurden aus den besetzten Gebieten ins Deutsche Reich verschickt. Noch 1944 wurde zur Perfektionierung des Transportes die „Normkiste 101“ entwickelt, die das komplette Inventar einer Wohnküche für 4 Personen mit Wäsche, Geschirr und Besteck usw. fasste.Viele Ausgebombte lebten in den Wohnungseinrichtungen der Deportierten und trugen ihre Kleidung.



Die Dimensionen der geraubten Werte vermittelt eindrücklich folgende Aufstellung: „Die Dienststelle Westen hat bis zum 31. Juli 1944 folgende Leistungen erstellt: 69 619 jüdische Wohnungen erfasst. Durch den Abtransport an die betroffenen Städte einschließlich Sonderaufträge kamen zum Versand: 69 512 komplette Wohnungen. Das zum Abtransport gekommene Mobiliar und Inventar ergibt zusammengerechnet: 1 079 373 cbm Frachtraum. Zu diesem Frachtraum wurden benötigt einschließlich zusätzlicher Lieferungen: 26 984 Waggons – 674 Züge. Des weiteren wurde bei der Erfassung zugunsten des Reiches sichergestellt und an das Devisenschutzkommando übergeben: 11 695 516 RM Devisen und Wertpapiere. Aus den Einsatzleitungen Frankreich, Belgien und Holland kamen des weiteren zum Versand: 2 191 352 kg Altmetall, Altpapier und Spinstoffe. Von dem Referat Sonderaufgaben wurden bis Ende Juli 1944 an bombengeschädigte, die in Frankreich eingesetzt sind, Möbel und Einrichtungsgegenstände im Wert von 1 516 186 RM abgegeben. Die vorstehenden aufgeführten Leistungen wurden erreicht mit 30 weiblichen und 82 männlichen Beamten und Angestellten des Reichsministreriums für die besetzten Ostgebiete. F.d.R.d.A. Deutschmann, Angestellte.“ (aus dem Buch „Aktion 3“)



Doch was ist nach 1945 mit all diesen Gegenständen passiert, die den europäischen Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus geraubt wurden? Die Antwort auf diese Frage ist banal: In den allermeisten Fällen blieben sie im Besitz der „ganz normalen Deutschen“, die sie sich unter den Nagel gerissen hatten – und dies oftmals im Wissen um ihre Herkunft und manchmal sogar, nachdem sie vorher ihre jüdischen NachbarInnen denunziert hatten. Der Sekretär, das Gemälde, das Silberbesteck – sie wurden vererbt an die Kinder, die sie wiederum an ihre Kinder weitervererben. Sie stehen und hängen auch heute noch in deutschen Wohnzimmern oder liegen in den Schubladen der Küchenschränke, geschätzt als Erinnerungsstücke an die Eltern und Großeltern, während den Nachkommen der Ermordeten oft nicht einmal ein Foto als Erinnerung an die Toten geblieben ist.



Auch hier liegt die Verantwortung der heutigen Generationen nichtjüdischer Deutscher für die Geschichte – nach der Herkunft der ererbten Antiquitäten zu fragen. Wer dies jedoch tun und dazu den Weg der Archivrecherche wählen möchte, steht vor einem Problem. Allerdings nicht, weil es darüber keine Dokumente gäbe: Die Finanzämter und –direktionen beispielsweise dokumentierten genau, in wessen Händen die Raubgüter auf Versteigerungen wanderten, und viele dieser Akten und Auktionsprotokolle sind bis heute erhalten. Das Bundesfinanzministerium aber hat diese Dokumente 1988 als „Steuerakten“ deklariert und mit einer 80-jährigen Sperrfrist belegt - sinnvoller Datenschutz oder Schutz für TäterInnen? Hinweise hierauf mögen vielleicht die empörten Reaktionen von Angehörigen der damaligen KäuferInnen geben, nachdem deren Namen im Rahmen der Ausstellung "Betrifft: ‚Aktion 3’ - Deutsche verwerten jüdische Nachbarn" ungeschwärzt präsentiert wurden...



Es gibt aber auch Menschen, die sich dieser Verantwortung gestellt haben – zum Beispiel einige Erbinnen solcher Raubgütern, die diese verkauften und mit dem Erlös die Stiftung ZURÜCKGEBEN gründeten. Mit den Erträgen des Stiftungskapitals und aus Spendenmitteln fördert die Stiftung Künstlerinnen und Wissenschaftlerinnen jüdischer Herkunft, um so zumindest symbolisch das unrechtmäßig angeeignete Vermögen „zurückzugeben“.



Literaturtipps zum Weiterlesen



„Aktion 3“. Deutsche verwerten jüdische Nachbarn. Dokumente zur Arisierung. Ausgewählt und kommentiert von Wolfgang Dressen. Aufbau-Verlag, Berlin 1998.



Lily Brett: Zu viele Männer, München 2003 (Heyne Taschenbuch)
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