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Alt 27-12-2006, 23:18   #5
Auf Wunsch gelöscht
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Wer der Wirtschaft helfen will, muss den Menschen helfen.
Denn die sind die wichtigste Ressource.
Das bedeutet: Selbstbewusstsein schaffen.
Jedem Einzelnen seine Fähigkeiten bewusst machen.
Und Träume verwirklichen.


Ein ungelernter Hilfsarbeiter in München, ohne Führerschein, dafür mit einem Alkoholproblem, länger als ein Jahr arbeitslos – das ist nicht gerade der Wunschkandidat eines Personalchefs. Doch heute hat der Mann seinen Traumjob gefunden: als Baggerfahrer auf einem Schrottplatz. Er verdient nicht mehr als mit Arbeitslosengeld II. Aber er ist zufriedener.

Ein Ingenieur für Nachrichten- und Regelungstechnik in Berlin, Ende 40. Seine Abteilung wird bei einer Umstrukturierung im Unternehmen abgewickelt. Nach 28 Jahren Festanstellung wird er arbeitslos – keiner, um den sich der Arbeitsmarkt reißt. Heute ist er EDV- und Systemadministrator bei einem Berliner Mittelständler, hat einen ganz neuen Beruf gelernt und sagt, dass er „100 Prozent glücklicher" sei als bei der alten Firma.

Eine Hebamme in einem Krankenhaus in Innsbruck. Sie merkt, wie sie die Routine im Job, die ewigen Bereitschaftsdienste und das ständige Gefühl des Ausgebranntseins langsam in eine Depression schlittern lassen. Sie kündigt, ohne zu wissen, wie es danach weitergeht, sie ist Anfang 40. Heute arbeitet sie in der ärztlichen Direktion des Krankenhauses, lernt jeden Tag etwas dazu und fühlt sich mit ihrer Arbeit ziemlich wohl. Das Kündigungsgespräch wurde damals ungeplant zum Einstellungsgespräch. Die Klinikleitung wollte sie behalten, wenn nicht als Hebamme, dann eben in der Verwaltung.
Drei Arbeitsbiografien. Drei Menschen. In der Sprache der Arbeitsagenturen und Verwaltungsbürokratien sind das „Fälle", „Bezugsberechtigte" oder bestenfalls „Mitarbeiter". Vielleicht sind die Bürokratien so ineffizient, weil sie Menschen auf Kennzahlen, Anforderungsprofile und Stellenbeschreibungen reduzieren. Und vielleicht funktioniert das Krankenhaus, das aus der unzufriedenen Hebamme eine zufriedene Verwaltungsmitarbeiterin gemacht hat, besser als Kliniken, die ihre Angestellten in Laufbahnen einsperren.

Die Hebamme aus Innsbruck, der Ingenieur aus Berlin und der Hilfsarbeiter aus München haben Glück gehabt. Aber sie haben sich ihr Glück auch selbst gemacht. Ohne Hilfe wäre das allerdings schwierig gewesen, denn auf das, was sie erlebt haben, waren sie nicht vorbereitet: der Verlust gewohnter Sicherheit, Perspektivlosigkeit, der Kampf um eine Neupositionierung, die Angst, wie das Leben weitergeht.

Für Unternehmen sind Umstrukturierungen, die Optimierung von Abläufen und technische Neuerungen der Normalfall, für den Einzelnen können sie zur bedrohlichen Überforderung werden. Doch das alles ist unvermeidbar: Die Zeit der linearen Arbeitsbiografien ist in den meisten Branchen vorbei und wird nicht zurückkehren. Dennoch sind solche Einschnitte für die Betroffenen Krisenerfahrungen – die mit etwas Glück und der richtigen Begleitung zu Chancen werden können. Mit etwas Pech und ohne Hilfe können sie Menschen allerdings zerstören.

Kompetenz ist nicht Ausbildung, sondern das, was man kann

Einer der Menschen, die dafür gesorgt haben, dass Lydia Haslwanter, die Hebamme, die heute im Klinik-Management arbeitet, keine Depressionen bekommen hat, ist Bertram Wolf. Er leitet das „Zukunftszentrum Tirol", ein Glaskasten im Zentrum von Innsbruck, zwischen der theologischen Fakultät und der kaiserlichen Hofburg. Wolfs Zukunftszentrum ist ein kleiner Thinktank, finanziert vom Land Tirol und der Arbeiterkammer, einer Interessenvertretung, in die jeder Arbeitnehmer Beiträge zahlen muss.

In Tirol – viel Tourismus, viele Saisonarbeitskräfte – wechselt jeder dritte Arbeitnehmer innerhalb von fünf Jahren den Job, die Branche oder beides. Brüche in den Erwerbsbiografien sind der Normalfall. Was nicht heißt, dass die Menschen damit reibungsfrei zurechtkommen. Die Beobachtung der hohen Fluktuation war für Wolf der Auslöser, im Zukunftszentrum eine neue Coaching-Methode zu entwickeln: die Kompetenzenbilanz. Wobei Kompetenzen nicht nur Berufsausbildung meint, sondern alles, was Menschen im Lauf ihres Lebens gemacht und gelernt haben – vom Hausbau über das Erziehen der Kinder und Aufenthalte im Ausland bis zur sozialen Kompetenz, ohne die etwa der Trainer einer Amateurhandballmannschaft nicht weit kommt.

Die ehemalige Hebamme Haslwanter ist eine von 1500 Klienten, die sich in den vergangenen drei Jahren im Zukunftszentrum über ihre berufliche Situation klar werden wollten. Ein Teil der Klienten, etwa 15 Prozent, sind arbeitslos, andere sind mit ihrer Arbeit unglücklich, unter- oder überfordert. Hinzu kommen viele Mütter, die zurück in den Beruf wollen.

Lydia Haslwanter erzählt: „Ich musste bei der Kompetenzenbilanz auf ein Plakat schreiben, was ich in meinem Leben schon alles gemacht habe. Um dann zu sehen, was ich gelernt habe, was ich alles kann. Das war gut für mein Selbstwertgefühl, es war der ausschlaggebende Punkt. Die Arbeit hatte mich klein gemacht, da war das Coaching wie eine Befreiung. Ohne wäre ich wahrscheinlich immer kleiner geworden. So habe ich gekündigt, auch wenn alle äußeren Fakten gegen die Kündigung sprachen: Ich war Anfang 40 und hatte keine andere Stelle in Aussicht. Aber es ging mir zu lange schlecht, die Schmerzgrenze war erreicht.

Beim Kündigungsgespräch fragte der Geschäftsführer der Klinik, ob ich etwas gegen das Haus hätte. Gegen das Haus hatte ich nichts, ich wollte nur nicht mehr als Hebamme arbeiten. Und durch das Coaching konnte ich gegenüber meinen Vorgesetzten authentisch und klar auftreten. So wurde das Kündigungsgespräch zum Einstellungsgespräch, ich bin ins Klinik-Management gewechselt."

Jeder kann mehr, als ein Zeugnis verrät

Die Idee der Kompetenzenbilanz ist simpel: Wenn sich die Arbeitssituation permanent verändert, wenn Arbeitsplatzverlust und Neuorientierungsphasen zur Regel werden und viele Berufe lebenslanges Lernen verlangen, wird es wichtig, dass sich Arbeitnehmer ihrer Fähigkeiten und Wünsche bewusst sind. Hinter der Kompetenzenbilanz steckt die Vermutung, dass viele Menschen in der Jobroutine verlernt haben zu fragen, was sie wirklich wollen. Doch ihre Wünsche sind die wichtigste Orientierung, wenn sie in einer Umbruchsituation gezwungen sind, sich neu zu positionieren.

Wünsche und selbst gesetzte Ziele sind die entscheidende Ressource, um die für eine Veränderung notwendigen Kräfte zu mobilisieren. Je unkalkulierbarer und abrupter sich die Welt verändert, desto notwendiger wird es für den Einzelnen, sich handlungsfähig zu halten. „Entscheidend ist, dass die Menschen lernen, mit Veränderungen umzugehen, denn das werden sie noch oft tun müssen", sagt Bertram Wolf. „Die Leute können mehr, als in ihren Zeugnissen steckt, und mehr, als sie selber glauben. Die Kompetenzenbilanz gibt ihnen die Impulse, sich das bewusst zu machen."

Der Geschäftsführer des Zukunftszentrums ist ein freundlicher Pragmatiker, der in seinem Leben vieles gemacht hat: Tischler, professioneller Extrembergsteiger, Fernsehredakteur. Vielleicht treibt ihn das Thema so um, weil er selbst immer wieder Brüche als Chancen nutzen konnte. Und weil ihm seine letzten beruflichen Wechsel ohne Studium und die üblichen Ausbildungsgänge gelungen sind. Kein Wunder, dass sich seine Ehrfurcht vor Zeugnissen und Zertifikaten in Grenzen hält.

Das Verfahren ist einfach: Es gibt vier Sitzungen von je zwei Stunden, dazwischen schreiben die Klienten in einer „Lebensbilanz" auf, was sie schon alles gemacht haben und wie sie mit Krisensituationen fertig geworden sind. So rufen sie sich vergessene Teile ihrer Biografie ins Bewusstsein und erfahren ihre Stärken. Nebenbei erkennen sie ihre Fähigkeiten, die sie oft für selbstverständlich halten. So entstehen neue Möglichkeitsräume.

Das Coaching ist keine Therapie. Existenzielle Lebenskrisen, psychische Krankheiten oder Alkoholprobleme kann es nicht aufarbeiten. Aber es ist weit mehr als ein Wohlfühlprogramm. Das muss es auch sein, schließlich werden die Kosten, knapp 500 Euro pro Coaching, bis auf eine Eigenbeteiligung von 190 Euro vom Zukunftszentrum getragen, also vom Steuerzahler und den Arbeitnehmern, die mit ihren Beiträgen die Arbeiterkammer finanzieren.

Der Erfolg ist messbar: Eine Evaluation kam zu dem Ergebnis, dass viele frühere Klienten durch das Coaching mit ihrer Tätigkeit zufriedener sind. Sie trauen sich mehr zu und entwickeln mehr Eigeninitiative, können besser mit Stress umgehen. „Das Coaching setzt Selbstheilungskräfte in Gang, die Kosten sind gering", sagt Wolf. „Wenn wir sehen, wie viele Menschen in Phasen der Neuorientierung oder aus Unzufriedenheit mit ihrer Arbeit an psychosomatischen Störungen oder Depressionen leiden und was allein das die Krankenkassen, die Sozialkassen, die Arbeitgeber kostet, sind die 500 Euro für eine Kompetenzenbilanz ein Witz. Das ist eine Präventionsmaßnahme gegen Burn-outZustände und die innere Kündigung, die im schlimmsten Fall zu Krankheiten führt. Stattdessen entstehen Selbstbewusstsein und Selbstständigkeit. Das macht die Leute zu interessanteren Arbeitnehmern."

Der nächste Schritt ist logisch: Das mit der Kompetenzenbilanz entwickelte Instrumentarium könnte für Personalverantwortliche in Unternehmen interessant sein. Derzeit ist Bertram Wolf darüber mit einem Tiroler Mittelständler und einem großen Autokonzern im Gespräch.

Wer seine Fähigkeiten kennt, entwickelt Eigeninitiative

Entwickelt wurde das Verfahren von den Arbeitspsychologen Thomas Lang-von Wins und Claas Triebel. Lang-von Wins ist Professor an der Münchener Universität der Bundeswehr und alles andere als ein trockener Wissenschaftler. Wenn er darüber spricht, wie festgefügte Organisationen und starre Hierarchien Menschen klein machen, spürt man die Wut hinter der analytischen Fachterminologie.

Der Entmündigung entgeht die Kompetenzenbilanz, indem sie den Klienten zum Herrn des Verfahrens macht. Lang-von Wins erklärt: „Die Grundhaltung, die wir von den Coaches erwarten, ist, dass sie sich naiv geben. Sie sollen hartnäckig nachfragen, was der Klient will, was er sich wünscht, in welchen Situationen er Stärken entwickelt hat. Wenn sich die Menschen ihrer Fähigkeiten bewusst werden, aktivieren und benutzen sie die auch. Wir lehnen es ab, dass der Coach den Menschen eine Lösung präsentiert. Damit würden wir die Leute aus der Eigenverantwortung nehmen. Das kann nicht der richtige Weg sein." Hinzu kommt: „In der Schule, aber auch im Beruf haben Menschen oft das stärkste Feedback, wenn sie etwas nicht können, wenn sie Fehler ma-chen. Das trimmt sie auf eine Defizitorientierung und macht sie klein." Diese Defizitorientierung lähmt die Menschen, zerfrisst ihr Selbstvertrauen. Sie aufzubrechen ist das Ziel des Coachings.

„Häufig sind die Klienten in einer Determinismus-Falle. Sie sind unzufrieden, denken aber gleichzeitig, dass an ihrer Situation nichts zu ändern ist", berichtet der Arbeitspsychologe. „Viele neigen dazu, aus ihrer Lage generelle Schlüsse über ihren gesamten Werdegang zu ziehen. Da kommen Sätze wie: Meine Berufswahl war falsch. Sie kappen den Bezug zu ihrer ursprünglichen Motivation und entwerten so ihre Kompetenzerlebnisse."

Lang-von Wins interessiert sich mehr für das Entwicklungspotenzial eines Menschen als für den mit einer Berufsausbildung erreichten Status. Sein wichtigstes Argument: „Die prognostische Kraft der Zertifikate ist begrenzt. Acht Jahre nach einem Abschluss jemanden nach einer Note zu beurteilen ist schwierig."

Weil es um Fähigkeiten geht, nicht um Berufsbezeichnungen, lassen sich die Coaches von ihren Klienten detailliert und möglichst konkret erklären, was sie in ihrem Arbeitsalltag genau tun. Berufsbezeichnungen und abstrakte Floskeln wie Teamfähigkeit werden in konkrete Tätigkeiten aufgelöst – die so auf andere Berufsfelder übertragen werden können. Wer eine Arztpraxis organisieren kann, kann unter Umständen auch ein Sekretariat organisieren. Dass Lydia Haslwanter ihre Vorgesetzten davon überzeugen konnte, dass sie unabhängig von ihrer Ausbildung in der Krankenhausverwaltung arbeiten kann, ist ein gelungenes Beispiel für eine Übertragung.

Wenn Lang-von Wins methodisch den ganzen Menschen in den Blick nimmt statt nur die Berufsqualifikationen, ist er von der klassischen Organisations- und Arbeitspsychologie weit entfernt. Viele Methoden gehen mechanischer vor. „Wer bei einer Arbeitsagentur einen Berufsfindungstest macht, bekommt unter Umständen zur Antwort, dass er als Pferdepfleger, Raketenwissenschaftler und Gartenarchitekt geeignet ist. Das hat mit der Person aber relativ wenig zu tun", sagt Lang-von Wins. „Ich bin sehr testkritisch geworden. Viele Personalverantwortliche in Unternehmen setzen solche Tests unhinterfragt als Werkzeug ein, mit dem sie etwas über den Menschen erfahren wollen – was sie aber letztlich nicht tun. Doch Personalverantwortliche müssen sich innerhalb einer Firma rechtfertigen – und durch solche standardisierten Testverfahren erscheinen ihre Entscheidungen objektiv."

Wenn die Menschen mit der Kompetenzenbilanz ihre Möglichkeiten entdecken und damit gegenüber der Dynamik des Arbeitsmarktes souveräner werden, könnte das zu einem wichtigen Wirschaftsfaktor werden – spätestens wenn der Wirtschaft in einigen Jahren die qualifizierten Mitarbeiter ausgehen und das so genannte Humankapital zur wichtigsten Ressource eines Unternehmens wird. Denn darin liegt die Stärke der Kompetenzenbilanz: Sie bringt ungehobene Ressourcen ans Licht. Schon jetzt variieren das Zukunftszentrum und die Münchener Arbeitspsychologen um Thomas Lang-von Wins die Methode für andere Klienten – von der Gründerberatung bis zu Projekten, die Schülern bei der Berufsorientierung helfen.

Um die Entdeckung menschlicher Ressourcen geht es auch Thomas Heinle, einem drahtigen, energiegeladenen Menschen mit einer Vision und der Kraft, sie zu realisieren. Seine These: „Es gibt nicht zu wenig Arbeitsplätze. Es gibt zu wenig Motivation." Also versucht er, Motivation freizusetzen. Die Menschen, mit denen er arbeitet, haben allerdings ungleich größere Probleme als die Klienten, die sich im Zukunftszentrum Tirol bei der Selbstpositionierung helfen lassen. Thomas Heinle betreut in seinem privaten Institut für Vermittlungscoaching in München schwer vermittelbare Langzeitarbeitslose, im offiziellen Sprachgebrauch: Menschen mit „multiplen Vermittlungshemmnissen".
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"Mittagessen? Nur Flaschen essen zu Mittag!"

Geändert von Auf Wunsch gelöscht (27-12-2006 um 23:22 Uhr)
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