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Alt 12-10-2006, 10:26   #4
Auf Wunsch gelöscht
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Hunger

Frisch gebackene MBAs der Elite-Universitäten strömen ins Hightech-Mekka Kalifornien wie die Goldgräber vor 150 Jahren. Es gibt genug für alle - versichern die, die ihren Claim im Silicon Valley schon abgesteckt haben.

Bei Lachsfilet und Wildreis kommen die Millionäre von morgen ins Schwärmen. Geschäftsideen für die nächste große Website fliegen durch den Raum, "ich habe ein Angebot von Excite", flüstert Kate und fragt nach Details zu Aktienoptionen bei Vertragsabschluss so beiläufig, wie ihr Couch-Nachbar noch einen Margarita bestellt. Steve verteilt Visitenkarten und ermutigt alle, seinen neuen Online-Service Messagebay Inc. auszuprobieren, für den er gerade um Finanzierung feilscht.
Als der pausbäckige Stargast des Abends die Gabel niederlegt und erzählt, wie man vor dem 30. Geburtstag zehn Millionen Dollar Risikokapital für ein Internet-Start-up einsackt, verstummt der Unternehmerclub der Stanford Graduate School of Business (GSB) und lauscht mit hungrigen Blicken. Matt Johnson war bis vor zwei Jahren Web-Designer und Radrennfahrer, nicht mal ein angehender Master of Business Administration (MBA) wie alle anderen hier. Dann kam er auf die Idee, College-Studenten Lehrbücher online anzubieten und gebrauchte Wälzer am Ende des Schuljahres zurückzukaufen. Versand gratis. Heute ist bigwords.com die führende Website in einer Marktnische, die Amazon noch nicht besetzt hat.

Reden, rechnen, runterschlingen - der
harte Alltag der Kids im Silicon Valley

"Es geht alles unglaublich schnell", erzählt Johnson. "Du musst wissen, was auf dich zukommt, noch bevor es eintritt, und dann sofort reagieren." Wenn er Pause macht, haken die Studenten nach und löchern ihren Gastgeber, Risiko-Kapitalist Neil Weintraut, mit Fragen: Wie prüft er Geschäftspläne auf ihre Plausibilität? Woher wusste er, dass Bigwords funktionieren würde? Weintraut, der das Dutzend Jungmanager in seine Villa in den Hügeln hoch über Palo Alto eingeladen hat, genießt die Rolle des Web-Weisen und spricht vom "Zen des Venture-Kapitalismus" derweil er sich ein Stück Tarte aux Pommes mit zwei Bissen hineinschiebt: "Wir machen keine Deals, wir nehmen Kinder in unsere Familie auf."
Nachwuchs gibt es genug. Der Internet-Boom treibt MBA-Studenten von den Elite-Universitäten der USA massenweise gen Westen, ganz so wie der Goldrausch vor 150 Jahren. Investment-Banken und Unternehmensberatungsfirmen an der Wall Street mögen mit dicken Gehältern und sicheren Jobs winken: Der Nachwuchs ist auf Selbstverwirklichung und schnellen Reichtum aus, als Manager in einem Start-up oder gleich als Chef in der eigenen Firma xyz.com.
"Überrascht" seien seine Gesprächspartner bei McKinsey gewesen, als er ihnen eine Absage erteilte, berichtet der 30-jährige Michael Leeds, während sich Weintraut wieder übers Dessert hermacht und Kate ihr Bündel Optionen noch einmal durchrechnet. Aus purer Neugier hatte Leeds die Headhunter des renommierten Beratungsunternehmens getroffen, als sie wie jedes Jahr den Stanford-Campus abgrasten. Dabei wusste er bereits, dass er sein eigenes Ding machen will. Seit einem halben Jahr brütet er über seinem Geschäftsplan, Details will er nicht verraten. McKinsey erhielt nicht nur von Leeds einen Korb.

Die MBA-Herde galoppiert ins Silicon
Valley - in den schieren Wahnsinn

Fran Noble vom Career Management Center der GSB sieht "einen absoluten Trend" zum Unternehmertum. Ihre Universität liegt im Epizentrum des Net-Rummels, die Gründer von Yahoo! kommen von dort. Doch noch nie zuvor waren so viele der Studenten an Hightech-Unternehmen interessiert wie in diesem Jahr. Mehr als ein Viertel des Jahrgangs machten seine Praktika in der begehrten Branche, mehr als ein Drittel werden diesen Weg einschlagen, sobald sie ihren Abschluss in der Tasche haben. Im Gegenzug sinkt der Anteil derer, die Investmentbanker und Berater werden wollen. An der Wirtschaftsfakultät von Harvard, am anderen Ende der USA in Boston, fällt der Umdenkprozess noch radikaler aus. Vor drei Jahren organisierten die als konservativ geltenden Studenten der Ostküste erstmals eine einwöchige Erkundungstour ins Silicon Valley. Von 800 Studenten kamen 40 auf den WesTrek. Dieses Jahr musste Organisator Gunjan Bhow mehr als die Hälfte seines Jahrgangs unterbringen - und traf im Westen ständig auf Studenten von anderen renommierten Institutionen wie die Kellogg Graduate School of Management in Chicago und Wharton School in Pennsylvania.
"Die Herde galoppiert ins Silicon Valley", spottet der 25-jährige Kalifornier Bhow. Er hatte schon vor dem Studium dort seine erste Firma gegründet. Jetzt nutzt er die alten Kontakte, um seine Kommilitonen in kleinen Gruppen durch drei Dutzend heiße Start-ups zu schleusen. Eine Ochsentour: "Die Leute zahlen die Reise komplett aus eigener Tasche. Jeder muss sich hinterher drum kümmern, am Ball zu bleiben, vielleicht vier-, fünfmal hierher fliegen. Aber fast alle, die dabei waren, fuhren wie verwandelt zurück."
Auch Europäer, die in Harvard studieren, werden vom kalifornischen Gründerfieber angesteckt. Clemens Henle aus Mühlheim machte den WesTrek aus Neugier mit und war fasziniert "von der Energie, der Leidenschaft, vom schieren Wahnsinn". Start-ups, in denen Hunde durch die Korridore hecheln und die unrasierten Unternehmer im Schlafsack unterm Schreibtisch nächtigen - was für ein Anblick für einen 29-jährigen Deutschen, der Evian statt Leitungswasser trinkt.
Hinter dem Chaos sah Henle den Willen zum Erfolg: "Sie erzählten uns vom Marktwert und von ihren Investoren, und ich dachte mir nur: Ich kann genauso erfolgreich sein, nur etwas ordentlicher." Gemeinsam mit drei Kommilitonen aus Frankreich, der Schweiz und Österreich will Henle das Valley-Fieber nach München bringen. "Der Goldrausch wird auch in Europa ausbrechen", glaubt er.

Man muss kein Genie sein, um
ganz vorn dabei zu sein

Mit ihrer Idee einer Online-Apotheke namens ourwellness.com, die wie das US-Vorbild drugstore.com Infos, Service und Produkte rund um die Gesundheit anbietet, gewannen Henle & Co den zweiten Platz im Harvard-Business-Plan-Wettbewerb 99. Doch schon zuvor rannten ihnen Risiko-Kapitalisten die Tür ein und stellten Geld für das Projekt im fernen Europa zur Verfügung. Bis Weihnachten wollen die Jungbosse mit 35 Angestellten loslegen. "An einer Schule wie St. Gallen wäre kein Funke übergesprungen, so was zu starten. Die Dynamik im Valley reißt einen mit", ist sich Henles Partner Guillaume Dufossé sicher.
Die beiden stehen nicht allein da. Mehr als ein Viertel aller Harvard-Betriebswirtschaftler ihres Jahrgangs will in eine junge Hightech-Firma einsteigen - viermal so viele wie 1997. Zehn Prozent der Absolventen, dreimal mehr als im Vorjahr, wollen eine eigene Firma gründen. Addiert man diejenigen hinzu, die Risiko- Kapitalisten werden wollen, ist der halbe Jahrgang auf West-Kurs. Es geht fast immer um dot-com’s. Die Buch-Site exchange.com gewann 1997 den HarvardBusiness-Plan-Contest und wurde eben für 200 Millionen Dollar von Amazon geschluckt. Chemdex, ein E-Commerce- Anbieter für den Chemikalien-Großhandel, kam damals unter die ersten zehn und hat bisher rund 40 Millionen Dollar Kapital aufgetrieben. Die Neugründung Zefer Corp. aus dem Jahr 1998 saugte bisher über 100 Millionen Dollar auf. Kein Wunder, dass die Zahl der eingereichten Geschäftspläne in drei Jahren von 15 auf 50 gewachsen ist. Und man muss kein Genie sein, um zu gewinnen. "Es ist mehr als genug Geld vorhanden, um jede halbwegs vernünftig klingende Idee verwirklichen zu können", berichtet Wettbewerbsorganisator Matt Bigge, der seit seinem 26. Geburtstag ein halbes Dutzend Firmen aus der Taufe gehoben hat. "Meine Mutter denkt, ich spinne, wenn ich ihr erzähle, womit ich mein Geld verdiene. Ein Generationsproblem. Die Börse und der anhaltende Aufschwung haben die Leute aufgeweckt. Jeder will ein Unternehmer sein."
Oder geht es nur ums Geld? "Wirtschaftsstudenten gehen immer dahin, wo’s am meisten zu verdienen gibt", räumt Sean Ryan ein, der 1996 an der John E. Anderson Graduate School of Management in Los Angeles seinen MBA erhielt. "Mein Jahrgang war der letzte, der sich noch irgendeine Entschuldigung hätte einfallen lassen können, nicht ins Internet einzusteigen. Wer heute smart und aggressiv ist, ist dabei - oder blind." Ryan galt vor drei Jahren noch als Außenseiter, weil er als einer der wenigen Absolventen keinen Wall-Street-Job mit sechsstelligem Jahreseinkommen annahm. Er suchte stattdessen ein halbes Jahr nach einer Stelle im Silicon Valley und ist nach der Zwischenstation beim Videospiele-Hersteller Segasoft heute leitender Manager der neu gegründeten Musik-Site listen.com. Heute ist er heiß begehrt: "Jede Woche rufen mich mindestens ein Dutzend ehemalige Klassenkameraden oder Studenten kurz vorm Abschluss an und wollen wissen, wie sie auf den Hightech-Zug aufspringen können. Gibt mir eine gewisse Befriedigung, dass ich richtig lag", grinst Ryan, "denn die ersten paar Monate ohne Arbeit kam ich mir ziemlich dämlich vor."

Der Job ist etwas für Guerillas,
nichts für brave Soldaten

Genauso ergeht es Jennifer Fonstad von der Risiko-Kapital-Firma Draper Fisher Jurvetson. Sie machte den ersten WesTrek 1997 mit und erinnert sich noch heute, dass sie eine der wenigen an Harvard war, die nach einem kurzen Gastspiel als Unter-nehmensberaterin im Silicon Valley einsteigen wollte. Dieses Jahr war sie erstmals Gastgeberin für Gunjan Bhows Truppe: "Jeder Teilnehmer des Business-Plan-Wettbewerbs meldet sich bei mir. Das ist wie die große Landnahme im Westen", urteilt die 33-jährige. "Anstelle von Grundstücken geht es darum, wer die meisten Zuschauer gewinnen kann."
Risiko-Kapitalist Weintraut, der seinen MBA bereits 1987 in Wharton machte, kennt den Unterschied zur alten Wirtschaft: "Noch vor fünf Jahren warst du ein Exot, wenn du für ein Start-up arbeiten wolltest. Heute sind solche Unternehmer Vorbilder, Ikonen für andere Studenten. Wer ins Chaos einer Neugründung einsteigt, muss Guerilla-Taktik beherrschen, anstatt wie Soldaten in einer Schlachtordnung zu marschieren und auf Befehl anzulegen und abzudrücken. Das ist nicht jedermanns Sache", redet sich Weintraut in Fahrt.
In einer Wirtschaft, die im Internet-Tempo tickt, sind rasant wachsende Firmen wie Yahoo!, Amazon, eBay oder E*Trade plötzlich ebenso etablierte Arbeitgeber wie Goldman Sachs und Arthur Andersen. Der Unterschied liegt im Arbeitsklima und der mittelfristigen Bezahlung. Die traditionellen Adressen bieten Gehälter und Boni von 100 000 bis 130 000 Dollar im ersten Jahr. Harvard-Absolvent Bhow formuliert die Ansprüche eines Start-ups und zugleich deren Reiz. "Niemand weiß genau, wie man’s richtig macht, also ist fast jede Idee einen Versuch wert. Du musst bereit sein, 15 Stunden am Tag zu arbeiten - aber du bestimmst, welche 15 Stunden es sind."
Nach Silicon-Valley-Auslegung ist Yahoo! mit seinen bald 1000 Angestellten für eine solche Interpretation beinahe zu durchstrukturiert. "Wenn eine Firma eine Personalabteilung hat, die aus mehr als einem Mitarbeiter besteht, werde ich misstrauisch", sagt Vielgründer Matt Bigge. Er sieht nur dort Entfaltungsmöglichkeiten, wo man noch mitreden, mitgestalten und mitentscheiden kann. "Ich kann entweder zum Vice President aufsteigen und wenn’s gut läuft mit Optionen auf 500 000 Dollar im Jahr kommen oder ich kann mir ein Stück einer kleineren Firma erarbeiten, das nach zwei Jahren 100 Millionen Dollar wert ist." Da fällt die Wahl nicht schwer.

Ein Türblatt, zwei Sägeböcke -
das macht einen Chef-Schreibtisch

"Wer sich mit der Unordnung anfreundet, kann hier in einem Jahr zu einer Schlüsselfigur in der Industrie werden und Geschichte machen", beschreibt Oliver Muoto die Attraktion. Der 29-jährige hat schon drei Start-ups hinter sich und ist jetzt Mitbegründer von Epicentric. Der anderthalb Jahre alte Provider für maßgeschneiderte Webportale großer Firmen hat zwei Dutzend Mitarbeiter und wird diesen Sommer zum ersten Mal zwei MBAs einstellen. "Wir treffen Entscheidungen oft aus dem Bauch heraus, da sind tiefschürfende strategische Denker nicht gefragt." Bei Muoto gibt’s keine Sekretärin, der Chef-Schreibtisch besteht aus einem Türblatt mit Sägeböcken.
Dafür badet sein Team in "Internet-Love", strahlt der Unternehmer: "Die Börse liebt uns, die Medien lieben uns, die Kunden lieben uns, die MBAs lieben uns. Das ist wie ein Rausch, keine Frage." Im Gegenzug für einen Batzen Börsengold in greifbarer Nähe erwarten die jungen Firmen Leidenschaft. "Ich suche nicht nach Studenten, die mit theoretischem Wissen vollgestopft sind oder die schnell reich werden wollen", sagt Eng-Siong Tan, Gründer der Webfirma Third Voice. "Ich will Einsatz sehen, als ob es um dein Leben geht." Tan hat in Erwartung des Booms in einem der vielen Spiegelglastürme am Freeway 101, der Hauptschlagader des Valleys, ein ganzes Stockwerk gemietet, aber erst die Hälfte seiner Schreibtische besetzt. Es gibt einfach zu wenig Leute. "Hier entstehen jedes Jahr 3000 neue Firmen", rechnet Finanzier Weintraut vor. "Selbst wenn alle Absolventen der fünf besten Business Schools auf alle diese Start-ups verteilt würden, würde das nicht ausreichen, um alle Stellen zu besetzen. Es gibt mehr Nachfrage als Angebot, und daran wird sich in den nächsten paar Jahrzehnten nichts ändern."
Nicht umsonst sprießen Internet-Headhunter wie Unkraut aus dem Boden. Es gibt genug für alle. Mehr als genug. "Die Ressourcen sind im Gegensatz zu früher immateriell und deswegen unbegrenzt", sagt Weintraut. "Der Kuchen wird um so größer, je mehr mitmachen. Das Internet ist keine Branche, sondern Kern der Wirtschaft der Zukunft."
Andrew Anker ist 33 und damit schon ein Veteran und dementsprechend leicht ergraut. Der gebürtige New Yorker war vier Jahre lang CEO von Wired Digital, dem Bannerträger der digitalen Aufbruchsstimmung. Seit vergangenem Jahr ist er Risiko-Kapitalist, sichtet Dutzende von Geschäftsideen und nimmt zahllose Anrufe von Wirtschaftsstudenten entgegen. "Erst gestern morgen waren drei Stanford-Studenten mit einer richtig guten Idee hier. Und das geht pausenlos so. Die können ihre Unterlagen praktisch bei uns in den Briefkasten werfen, wenn sie morgens vorbeijoggen", sagt Anker im creme-farbenen Konferenzzimmer von August Capital.
Das Büro liegt an der Sand Hill Road in Palo Alto, dem Herz des Silicon Valleys. Die Landstraße ist Synonym für die Risikokapital-Gemeinde, die 1998 allein 3,5 Milliarden Dollar in Internet-Start-ups investierte. "Ich bin mir nicht einmal sicher, dass man einen MBA braucht, um hier Erfolg zu haben. Ich hatte jedenfalls keinen", denkt Anker laut. "Man muss einfach herkommen. Und Hunger mitbringen."

Vom Januar 1999....
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"Mittagessen? Nur Flaschen essen zu Mittag!"
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