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Alt 14-04-2008, 16:48   #19
621Paul
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Genau hier fängt die Verführung an

Deshalb ist der historische Referenzpunkt für „Feuchtgebiete“ nicht das Mittelalter, sondern die Kultur des achtzehnten Jahrhunderts. Eine Epoche, in der, wie Richard Sennett nicht genügend loben kann, jeder öffentlich Theater spielte und das auch vom anderen wusste. Seinen Zeitgenossen wirft der Soziologe vor, dass sie sich mit ihren Rollen identifizieren und von ihren öffentlichen Repräsentanten weniger eine solide Politik als ein Privatleben erwarten, das moralischen Idealen lückenlos entspricht.

Roches Roman spricht es aus, dass heute vor allem Frauen der Verwechslung von Rolle und Realität zum Opfer fallen. Dabei könnten sie mit den Idealen, die sich nicht erreichen lassen, spielerisch umgehen. Denn in der Sexualität geht es immer um die Wirklichkeit hinter der Fassade. Erotisch ist, wer seine Schwächen kennt und sie nicht nur in Kauf nimmt, sondern seine Erscheinung gelegentlich für intime Signale durchsichtig macht. Ist die Andeutung des eigenen grotesken Leibs doch die vielleicht galanteste Form der Höflichkeit, weil sie auch andere vom Perfektionsanspruch entlastet.

Genau hier fängt die Verführung an. Es ist das Skandalon des Romans, dass Robin von Helens schamloser Leiblichkeit nicht abgestoßen wird, im Gegenteil, er nimmt sie mit nach Haus. Gehört die Verwechslung von blendender Schönheit und Verführungskraft doch zu den notorischen Zeitgeistirrtümern. So wurde die große Verführerin Anne Boleyn in „Die Schwester der Königin“ von Justin Chadwick jüngst mit Natalie Portman besetzt - die auf den ersten Blick so attraktiv ist, dass Verführungskünste völlig überflüssig scheinen. Stephen Frears wusste noch, dass der Verführer nicht schön sein darf, und wählte bei der Verfilmung der „Gefährlichen Liebschaften“ vor zwanzig Jahren John Malkovich für die Rolle des Valmont.

Das Klischee herausgefordert

„Solche Frauen“, sagt Helen von den Rasierten und Gekämmten, „traut sich doch keiner durchzuwuscheln und zu ficken.“ Damit fordert sie das Klischee heraus, die Wahl des Sexualobjekts laufe bis heute evolutionistisch ab und werde von Fortpflanzungskriterien dominiert, die biometrischer Perfektion, männlichen Muskelpaketen und weiblicher Jungfrauenanmut den Vorzug geben. In der von Georg Franck beschriebenen Aufmerksamkeitsökonomie ist dieses Ideologem zur self-fulfilling prophecy geworden. Wie Helen predigt, kann aber nur der fehlerhafte, unfertige und ergänzungsbedürftige Leib eine Anziehungskraft entfalten, die der Sexualität gewachsen ist. „Knochiges leeres Gesicht“, beschrieb Franz Kafka nach der ersten Begegnung Felice Bauer, „fast zerbrochene Nase“, „reizloses Haar, starkes Kinn“.

Und doch entwickelte er für sie eine Passion wie kaum für eine andere Frau. Verführbarkeit und Verführung haben mit der Freiheit zu tun, vom großen Marschweg abzuweichen. Wenn man den ersten Anzeichen bei Autoren wie Charlotte Roche, Iris Hanika und Clemens Meyer trauen darf, nimmt die Literatur von den Hardbodies Abschied, die auch bei Michel Houellebecq die Romanhandlung diktieren. Selbst der Autor der „Wohlgesinnten“ Jonathan Littell bekannte jüngst, dass ihn an seinem SS-Stoff weniger die schneidige Gestalt des perfekten Soldaten als das Phantasma der Orgie interessierte.

Roche versöhnt uns mit dem Beschämenden

Schneidigkeit und Orgie sind die beiden Pole von Gesellschaften, in denen es keine Verführung gibt. Sie ist eine Begleiterscheinung wirklich aufgeklärter, erwachsener Kulturen, deren Mitglieder im Bewusstsein der Krise leben, statt sich in soziale Idyllen zu träumen. Zu diesen Idyllen zählt die Münzautomatenökonomie der männlichen Triebabfuhr genauso wie der weibliche Traum von der ewigen Liebe. Nur wer weiß, dass das Glück „gebrechlich“ ist, wie Kleist am Ende der „Marquise“ schreibt, wird von Wechselfällen nicht entmutigt und nimmt den Kampf auch in der Liebe mit Widerständen auf.

Insofern ist die Wall Street wirklich, wie Brad Easton Ellis meinte, die Hieroglyphe unserer Gegenwart. Dort wechseln ständig Glück und Pech, und alle machen weiter und trinken darauf. Dabei hängen die viel beneideten Boni der Finanzjongleure unmittelbar mit der Risikoscheu des Rests zusammen. Im Geschäftsleben beginnt sich das Wissen um die Bedeutung von Spiel und Verführung durchzusetzen. Nur im Privatleben gilt Diplomatie weiterhin als genauso überflüssig wie spielerische Unberechenbarkeit. Dort herrschen zwei fundamentalistische Sätze: Biologie ist Schicksal, und Sublimation ist verlogen.

Zu dieser Tyrannei der Intimität ist Charlotte Roches Buch nur auf den ersten Blick zu zählen. Denn die Intimität, die Richard Sennett beklagte, verlangt vom anderen weniger Transparenz als Kunstlosigkeit. Für die frustrierten Idyllen in unseren Köpfen ist Helen ein gefährliches Monstrum, das uns daran erinnert, dass wir nicht sind, wie wir uns geben. Charlotte Roche ist sprachlich etwas fast Unmögliches gelungen. Sie versöhnt uns mit dem Beschämenden, bei dem alle Verführung anfängt. Indem ihr kaltblütiger Seiltanz den grotesken Leib begnadigt, erlöst er die Erotik aus der Verfallenheit ans vollkommene Bild. „Feuchtgebiete“ ermächtigt zum Spiel mit der individuellen Versehrtheit und ermutigt den kunstlosen Sexus, endlich erwachsen zu werden.

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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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