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Alt 14-04-2008, 16:45   #17
621Paul
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Naturnahe Erotomanin oder Scheidungskind?

Für Helen war die Trennung ihrer Eltern so ein traumatisches Erlebnis. Sie quittiert es mit der bitteren Bemerkung: „Nur zu bleiben, solange die Liebe noch da ist, reicht nicht, wenn man Kinder hat.“ Dass Helen sich sterilisieren ließ, wie wir beiläufig erfahren, geht mit diesem Satz eine Heisenbergsche Unschärferelation ein, die nur zwei einander ausschließende Deutungen zulässt.

Entweder Roches Heldin ist naturnahe Erotomanin, die alles den Körper Betreffende wie ein großes Abenteuer angeht und die Sabotagen der Hygieneindustrie verachtet, aber bei der Sterilisation eine Ausnahme macht, weil sie bei ihren Eskapaden durch keine Schwangerschaft ins Stolpern kommen will. Oder sie ist ein gebranntes Scheidungskind, das im Dschungel zeitgenössischer Sexbesessenheit nach Liebe und einer Treue sucht, der sie den Härtetest der Familiengründung nicht mehr zutraut. Furcht vor den Strapazen einer Geburt wird kaum der Grund für die Sterilisation sein. Denn in der Hoffnung, ihre Eltern durch einen verlängerten Klinikaufenthalt doch noch zusammenzuführen, fügt Helen sich bedenkenlos eine schreckliche Verletzung zu.

Antiprogramm zum Treuephantasma

Das Thema Geburt lässt andere Warnlichter aufleuchten: In der Kindheit wurde sie heimliche Zeugin eines Gesprächs, in dem ihr Vater einem Freund davon berichtete, „wie schlimm es für ihn war, bei meiner Geburt zugucken zu müssen“. So wie Helen bei der Begutachtung ihrer OP-Wunde malt auch ihr Vater alle Details der ihn überfordernden Szene inbrünstig aus. Der Freund flüchtet sich in Gelächter: Denn „über das, wovor man am meisten Angst hat“, so Helen, „lacht man immer am lautesten“. Es bleibt in der Schwebe, ob Helen die eigene Geburt für die Trennung der Eltern verantwortlich macht.

Klar ist auf alle Fälle, dass Charlotte Roche das Lachen für eine noch bessere Traumaprophylaxe hält als den Albtraum. Ihr satirischer Roman setzt sich beherzt dafür ein, dass die Beziehungen zwischen Mann und Frau nicht noch einmal an unzureichender Aufklärung scheitern. So macht sich ihre Heldin systematisch mit allen Eventualitäten des Liebeslebens vertraut. Ihr Verhalten ist ein einziges Antiprogramm zum Treuephantasma, ein Abwehrzauber und eine Flucht nach vorn, die jeder möglichen neuen Verletzung zuvorkommen möchte. „Eine Art sexuelle Überforderung von sich selber“, nannte Roche das in einem Interview: „Die will sich stählen für irgendwelche Ernstfälle.“

„Ich bin für mehr Sex - mehr Schweinereien, keine Tabus“

Zur Errichtung dieses Frühwarnsystems macht sich Helen systematisch mit der Grauzone des männlichen Sexuallebens vertraut. Sie besucht Bordelle, wo sie Prostituierte auswählt und mit ihnen ins Bett geht, phantasiert von pubertären Spermaorgien auf Pizzadienstlieferungen und beschäftigt sich ausführlich mit dem Onanieren. Doch so wie die überdrehten und aufs Technische abhebenden Onanieszenen ohne stimulierende Phantasmen, Bildvorlagen und ideale Partner auskommen, bleiben auch die Bordellszenen schemenhaft und konstruiert.

Im „Playboy“ äußerte sich die Autorin positiv zur Pornographie. Doch im „Spiegel“-Gespräch gestand sie: „Das Pin-up, das ich auf einem C&A-Plakat sehe, wenn ich mein Kind zum Kindergarten fahre, das stört mich auch.“ Roche begründet ihre Aversion damit, dass der in der Öffentlichkeit ad nauseam propagierte Sex „langweiliger, flacher, spießiger und unaufregender“ sei als die Wirklichkeit: „Ich bin für mehr Sex - mehr Schweinereien, keine Tabus. Ich glaube, dass es vom echten Sex, dem Sex, der riecht und schmeckt und schmutzige Geräusche macht, nie genug geben kann.“

Gegen die Pin-up-Kultur der lückenlos Attraktiven

Die Differenz, die Charlotte Roche mit dem C&A-Plakat aufmacht, ist keine zwischen Sex und Sex, sondern eine zwischen Sex und idealisierten Sexobjekten, die unaufgeregt im Sinne des von Freud definierten weiblichen Narzissmus und „flach“ im Sinne des geschlossenen, wenn auch weitgehend nackten Körpers sind.

Sie sind Charlotte Roche ein Dorn im Auge, während sie das pornographische Spektakel aufgelöster Leiber begrüßt. Insofern ist „Feuchtgebiete“ auch ein Pamphlet gegen die Pin-up-Kultur der lückenlos Attraktiven und die Zumutung, die sie für wirkliche Frauen bedeutet. „Was diese Frauen aber nicht wissen“, so Helen über die Blondierungs-, Maniküre-, Peeling- und Intimwaschkünstlerinnen, die eine solche Kultur hervorbringt: „Je mehr sie sich um all diese kleinen Stellen kümmern, desto unbeweglicher werden sie. Ihre Haltung wird steif und unsexy, weil sie sich ihre ganze Arbeit nicht kaputtmachen wollen.“

Als „Möchtegern-Kräuterhexen“ abgestempelt

Vielleicht, um nicht in unerwünschte Nachbarschaft zu geraten, spart die Helen in den Mund gelegte Hygieneliste die Martyrien aus, denen sich all die unterwerfen, die kein klassischen Proportionen gehorchendes Gesicht und einen achtzehnjährigen Modelkörper besitzen. Schönheitsoperationen, teure Spa-Aufenthalte und Hungerkuren haben hier bekanntlich ein weites Feld.

Dabei weiß Charlotte Roche, dass „Feuchtgebiete“ gerade auch diese Bastion in Angriff nimmt und mit der proklamierten Rückkehr zu den fünf Sinnen in der öffentlichen Sexverhandlung an der Diktatur der Optik rüttelt. Der Eros, den sie beschwört, sendet nicht nur Gerüche aus, erlaubt sich Tuchfühlung und durchdringende Blicke, er macht auch den Mund auf. Helens schamlose Reden wirken auf ihren Pfleger Robin anziehend.

„Feuchtgebiete“ ist auch ein Crash-Kurs in Sachen Verführung, und das macht den Roman vielleicht am deutlichsten zum Hybrid des Feminismus. Eckhard Fuhr wies in der „Welt“ darauf hin, dass Charlotte Roche einen Faden aufnimmt, den der Feminismus vor dreißig Jahren fallen ließ. Vielleicht sollte man eher von einer aufgefischten Fahrradkette sprechen, denn Helen steht auf die Schmerzlust der Piercings.

Wo aber Punk und Emanze sich treffen, da geht es um die Verachtung der aufgebrezelten Frau: „Was ihre physische Erscheinung betrifft, leiden Frauen unter Gehirnwäsche“, schrieb Germaine Greer 1971: „Ihre Haltung dem eigenen Körper gegenüber ist oft apologetisch, denn sie vergleichen ihn mit dem plastischen Objekt des Begehrens, das durch die Medien verbreitet wird.“ Greers Diagnose löste unter politisch denkenden Frauen eine Welle demonstrativer Entspannung aus. Ohne Rücksicht auf Attraktivitätswerte warfen sie ihr Make-up in den Abfall, zogen bequeme Gummisohlenschuhe, Beutelhosen und lagenreiche Kleider an und wurden prompt als „Möchtegern-Kräuterhexen“ abgestempelt.

Fortsetzung folgt
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.

Geändert von 621Paul (14-04-2008 um 16:49 Uhr)
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