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Alt 24-06-2007, 09:19   #2
Benjamin
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Vertrag statt Verfassung
Mit diesem so genannten Änderungsvertrag, der aus zwei Teilen besteht, sollen die Regelungen des Vertrags von Nizza aus dem Jahr 2000 reformiert werden. Der neue Vertrag ist viel dünner als der alte Verfassungstext, aber für einen Laien kaum noch zu verstehen. „Die Verfassung war ein einfach verständlicher Vertrag, jetzt haben wir einen vereinfachten Vertrag, der sehr kompliziert ist“, sagte Luxemburgs Ministerpräsident Jean-Claude Juncker. Nach der Ablehnung durch Franzosen und Niederländer und der Skepsis in Großbritannien wurden alles aus dem alten Verfassungstext herausgestrichen, das den Eindruck eines europäischen Superstaats erwecken konnte: Hymne, Flagge und Grundrechtecharta. Dennoch dürfen Beethovens Hymne weiter gespielt und die blauen Flaggen mit den zwölf goldenen Sternen weiter gehisst werden.

Mehrheitsentscheidungen
Die ist die wichtigste Neuerung im neuen Vertrag. Sie hat weit reichende Konsequenzen: Blockaden werden bei Abstimmungen schwieriger und Entscheidungen können schneller getroffen werden. Bisher wurden Abstimmungen unter den Mitgliedstaaten dadurch erschwert, dass sie in vielen Bereichen einstimmig gefällt werden müssen. Nach den neuen Regeln ist künftig bei den meisten Entscheidungen – in genau 181 möglichen Fällen statt bisher 137 – eine qualifizierte Mehrheit nötig. Dies gilt vor allem für Entscheidungen zur Justiz-und Polizeizusammenarbeit. In diesem Bereich bekommt die EU jetzt mehr Gewicht. Dies soll helfen, Terrorismus, illegale Immigration und internationale Kriminalität besser bekämpfen zu können. In 70 Bereichen, wie Steuern, soziale Sicherheit, EU-Haushalt und Außenpolitik, besteht aber weiterhin Einstimmigkeit – ein Land kann in diesem Fall mit seinem Veto EU-Beschlüsse weiterhin blockieren.

Doppelte Mehrheit:
Grundsätzlich ist künftig für eine qualifizierte Mehrheit die Zustimmung von mindestens 55 Staatennötig, die 65 Prozent der EU-Bevölkerung umfassen müssen (‚doppelte Mehrheit’). Neben der Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen ist dies ein weiterer Meilenstein: Entscheidungen werden gerechter, weil die Einwohnerzahl bei den Stimmrechten eines Landes stärker berücksichtigt wird als unter dem Nizza-Vertrag. Beispiel: Bisher hat Deutschland 8,4 Prozent der EU-Stimmen und Polen 7,8 Prozent, obwohl Deutschland mehr als doppelt so groß ist. Nach dem neuen Vertrag erhält Deutschland 17,2 und Polen 8,0 Prozent der Stimmrechte. Die bevölkerungsreichen Länder werden dadurch begünstigt.

Polens Erfolg
Die polnische Regierung wollte die Aufwertung der großen Staaten bei Abstimmungen nicht akzeptieren, ließ die Verhandlungen beinahe scheitern. Neuer Kompromiss: Die intransparente und für Polen günstigere Stimmengewichtung des Nizza-Vertrags („dreifache Mehrheit“) gilt bis 2014 weiter und kann auf Wunsch eines Landes sogar bis März 2017 verlängert werden. Zudem wurde die Schwelle erhöht, die zur Blockade einer Entscheidung nötig ist – von vier auf fünf Länder. Die praktischen Auswirkungen sind allerdings gering: Die EU-Geschichte zeigt, dass sich die großen Länder bisher niemals einheitlich gegen kleine und mittlere Staaten verbündet haben. Warschau hofft aber, sich bei Verordnungen über die Verteilung von Strukturfonds-Geldern bis 2017 doch noch Vorteile sichern zu können.

Großbritanniens Erfolg
Auf Druck Londons wird die Grundrechtecharta, ein Kernstück des Verfassungstextes, formal nicht Teil des neuen Vertrags. Ein Querverweis macht aber deutlich, dass sie künftig rechtsverbindlich ist. In Zusatzartikeln wird klar gestellt, dass die Grundrechtecharta für britisches Recht nicht anwendbar ist. London fürchtete vor allem, beim Arbeitsrecht an Einfluss zu verlieren. Außerdem kann London – wie andere Staaten auch – bei der Justiz-und Poliziezusammenarbeit aus EU-Beschlüssen aussteigen (‚opt-out’).

Mehr Macht für Parlamente
Wenn ein Drittel der nationalen Parlamente der Meinung ist, ein Gesetzesplan der EU-Kommission verstoße gegen die Entscheidungsbefugnisse der Länder, muss die Kommission den Vorschlag überdenken, ändern oder fallen lassen. Ändert sie nichts, muss sie das ausführlich begründen.

Neuer Chefdiplomat
Er hat viel mehr Rechte als bisher Javier Solana, er heißt aber weiterhin „Hoher Vertreter“ und nicht „EU-Außenminister“. Der neue Chefdiplomat ist zugleich Vizechef der EU-Kommission, er leitet die Sitzungen der EU-Außenminister, er hat Initiativrecht und leitet den neuen Europäischen Auswärtigen Dienst.

Weitere Änderungen
Die Zahl der EU-Kommissare wird 2014 von derzeit 27 auf 15 verkleinert. Mehr Einfluss für das Parlament bei Gesetzen und Finanzen. Die Arbeit der Mitgliedstaaten wird von einem neuen Präsidenten des Europäischen Rates koordiniert, der kein Regierungsamt mehr inne hat. Der neue „Mr. Europa“ wird für zweieinhalb Jahre gewählt, bisher wechselte der Vorsitz alle sechs Monate. Zudem erhalten Bürger mehr Mitspracherechte: Wenn eine Million Menschen per Unterschrift ein Gesetz verlangen, muss die EU-Kommission tätig werden – ein Klacks im Zeitalter des Internet.

Neue EU-Beitritte möglich
Die Einigung auf den neuen Vertrag macht den Weg frei für eine EU-Erweiterung. Die Staaten des Westbalkans haben die feste Zusage, der Union beitreten zu können.

Zeitplan
80 Prozent der Arbeit sind getan, eine so genannte Regierungskonferenz soll in vielen Sitzungen bis zum Jahresende über Details verhandeln. Anschließend stimmen die nationalen Parlamente ab, nur in Irland ist ein Referendum nötig . Zum Frühjahr 2009 wird der neue Vertrag in Kraft treten.

Geändert von Benjamin (24-06-2007 um 10:18 Uhr)
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