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Alt 22-12-2006, 00:49   #2
MANKOMANIA149
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Zum ersten Male

Es muß im Jahre 1912 gewesen sein, am 23. Dezember. Wir fuhren von Göttingen bis Eichenberg mit der Bahn, ein Dutzend Jungen, und wateten dann durch den hohen Schnee querfeldein auf die Burgruine Hanstein zu. Noch war sie nicht in Sicht. Wir zogen über Berg und Tal, durch Wälder, durch Schluchten und an Hängen hin. Manchmal gab es kleine Raufereien, der eine und andere wurde im Schnee herumgewälzt und mit Schnee gewaschen. Wenn das Gelände es erlaubte, gingen wir schneller und sangen. Die Sonne schien matt durch den frostigen Nebel, der über der Erde stand. Schweigend lagen die Dörfer im Tal.Wir zogen dahin, sangen und waren guten Mutes.


Jede Fahrt ein Abenteuer


Damals hatte die Jugend gerade Gefallen am Wandern gefunden. Jede Fahrt bedeutete noch ein Abenteuer. Jugendherbergen gab es noch nicht. Und wenn es sie gegeben hätte, wären wir an ihnen vorbeigegangen. Noch lag der Glanz des Neuen, ja, des Unerhörten über allen Unternehmungen. Man entdeckte die Landschaft, die Freiheit, die Lieder, die Spiele, die Tänze, die Freunde, sich selbst, die Welt, alles. Ich war damals vierzehn Jahre alt und erst wenige Wochen bei der Gruppe. Wir dachten nicht viel über das Leben nach, aber wir lebten. Gerade weil wir nicht über das Leben nachdachten, lebten wir. Wir waren ein Teil des Lebens. Ich fürchte, die klugen jungen Menschen von heute würden nicht viel von uns gehalten haben. Wir von ihnen übrigens auch nicht.


Eine bewegende Weihnachtsfeier


Um die Abenddämmerung trafen wir auf der Ruine ein. Und alsbald begann im Saal, den eine Balkendecke, verglaste Fenster und ein offener Kamin bewohnbar machten, eine bewegende und erregende Weihnachtsfeier. Für mich war sie deshalb so bewegend, weil fast alles, was geschah, unter dem glücklichen Zeichen des "Zum ersten Male" stand. Zum ersten Male sah ich einen Weihnachtsbaum, der keinen andern Schmuck als einige wenige Kerzen trug und mit seinem weit ausladenden, stark duftenden Gezweig so waldhaft, so unberührt wirkte. Zum ersten Male vernahm ich die Weihnachtsgeschichte in der Sprache des alten Heliand-Dichters. Zum ersten Male ließ die unbegreiflich süße, von Geigen und Blockflöten umjubelte Melodie des "Susani Susani" mein Innerstes erbeben. Zum ersten Male erfuhr ich, was das ist, eine Gemeinschaft. Zum ersten Male war ich nicht mehr allein. Und dann kam noch ein anderes, ein unvergeßliches "Zum ersten Male".


Ein großes Glück ...


Ehe wir uns im aufgeschütteten Stroh schlafen legten, tastete ich mich die dunkle Stiege im Turm empor. Als ich oben ins Freie trat, flimmerte ein winterlich klarer Sternenhimmel über mir. Ich erkannte die vielen Sternbilder: den Orion, den Fuhrmann, den Großen Bären, ich erkannte Perseus, den ich vor allen andern liebte, Andromeda und Kassiopeia. Zu meinen Füßen lagen die verschneiten Bergrücken und Wälder. Dort unten im Tal strömte die Werra. Jenseits erhob sich der Ludwigstein, damals noch eine unbekannte Burg. Nahebei lagen dunkel die Häuser des Dorfes. Unmittelbar unter mir dämmerte hinter den Fenstern des Saales ein rötlicher Kerzenschein. Dort summten und sangen die Kameraden. Und da überkam mich plötzlich ein ganz tiefes Glücksgefühl. Wie traumverloren war das mattsilberne Bergland mit seinen Schatten, wie geheimnisvoll die Grenzenlosigkeit der Nacht mit den strahlenden Sternbildern! Wie abgründig das Schweigen! Wie liebte ich das alles! Wie liebte ich die Welt!


... und die Suche nach Frieden


Aber seltsamerweise brachte das Glück, das Übermaß von Glück, keinen Frieden in meine Seele, sondern Unruhe und Traurigkeit. Es war das Glück, ohne Frage. Ich glaubte sogar zu wissen, daß ich nie wieder so glücklich sein könnte wie in dieser Stunde. Und doch war es nicht genug. Es fehlte etwas. Ich zitterte vor Glück, und ich zitterte gleichzeitig vor Unzufriedenheit und Sehnsucht. Eine Ahnung überkam mich, daß nichts, was ein Mensch auf Erden erlebt, imstande ist, die Ruhelosigkeit in ihm zu stillen. Auch in ihrer schönsten Schönheit war die Welt nicht vollkommen, nicht heil, nicht tröstlich im letzten. Es gab etwas in mir, in meinem bebenden Knabenherzen, das sich über den flimmernden Glanz der Welt, über jedes Maß an irdischer Seligkeit hinaus nach einer Seligkeit und Schönheit und Wahrheit verzehrte, die ohne den Hauch der Schwermut, ohne die Gebrochenheit, ohne das Ungenügen sein sollte. In jener Nacht auf dem Turm der Burg Hanstein erfuhr ich zum ersten Male, unbestimmt nur und jungenhaft, wie es ist, wenn ein Mensch von dem Verlangen nach Gott überwältigt wird.


Manfred Hausmann (10.9.1898 - 6.8.1986)


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Hintergrundmusik:
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Alles was ich schreibe ist meine private Meinung.
Vegetarisches Essen schmeckt am Besten, wenn man es vor dem Servieren durch ein Steak ersetzt.
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Geändert von MANKOMANIA149 (22-12-2006 um 00:53 Uhr)
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