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Alt 12-08-2005, 15:29   #5
Goldfisch
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Legenden fürs russische Selbstbewusstsein
Die Maschinengewehre vom Typ Kalaschnikow haben mehr Menschen getötet als die Atombombe - aber darüber verliert eine Ausstellung im Kreml kein Wort





MDZ 11-08-2005
Legenden fürs russische Selbstbewusstsein Tobias Zihn
Bild: Museum Moskauer Kreml

Er ist Held der Sozialistischen Arbeit, Träger des Leninordens und des Ordens für hervorragende Dienste für das Vaterland. Michail Timofejewitsch Kalaschnikow hat die berühmteste Waffe der Sowjetunion erfunden, das Sturmgewehr AK-47. Der Kreml ehrt den Konstrukteur mit einer großen Kalaschnikow-Ausstellung in der Rüstkammer.

Das Herzstück der Ausstellung ist ein Prototyp des Sturmgewehrs AK-47, das der russische Waffenkonstrukteur Michail Kalaschnikow 1947 erfand. AK-47 ist die Abkürzung für Awtomat Kalaschnikowa Obrasza 1947. In einem Glaskasten ist das schwarze Maschinengewehr, das in der ganzen Welt unter dem Namen Kalaschnikow bekannt ist, ausgestellt. „Mit dieser Ausstellung wollen wir einen großen Mann unseres Landes und unserer Kultur ehren“, sagte Elena Morschakowa, Organisatorin der Ausstellung in der Rüstkammer, anlässlich der Eröffnung.

Der Besucher erfährt aus diesem Grund viel aus dem Leben des Waffenkonstrukteurs. Kalaschnikow wurde am 10. November 1919 in Ischewsk am Ural geboren. 1930 wurde seine Familie im Zuge der Kulakenverfolgung nach Kurja in Sibirien in die Verbannung geschickt. Kalaschnikows Biografie beginnt jedoch in der Ausstellung erst 1936, als er die Schule verließ, in seine Geburtsstadt zurückkehrte und anfing, bei der Eisenbahn zu arbeiten.

Mit 19 Jahren wurde er zum Militär eingezogen. 1941, als Deutschland die Sowjetunion überfiel, war er Panzerkommandant und erlitt im Herbst 1941 bei Kämpfen um Brjansk schwere Verletzungen. Nach dem Krieg stieg Kalaschnikow zum führenden Waffenkonstrukteur der UdSSR auf. In seinem Konstruktionsbüro arbeiteten zahlreiche in die UdSSR verschleppte deutsche Zwangsarbeiter. 1947 präsentierte Kalaschnikow das berühmte Sturmgewehr, das ab 1949 massenhaft produziert wurde. Begonnen hat er mit der Entwicklung der Waffe bereits zu Kriegszeiten 1943. Die Waffe wurde in der Waffenfabrik von Ischewsk im mittleren Ural hergestellt. Kein anderes russisches Fabrikat hat so weitgehend den Weltmarkt erobert wie die Kalaschnikow. In den Jahren nach 1949 wurde die Waffe von zahlreichen Ländern auf der ganzen Welt nachgebaut und modifiziert. Die Kalaschnikow und ihre modernisierten Nachfolgemodelle dienten im gesamten Ostblock als Standardbewaffnung der Infanterie.

Die Geschichte der Kalaschnikow und ihres Erfinders wird in der Rüstkammer als einzige Erfolgsgeschichte präsentiert. Kein Wort darüber, dass mit der Kalaschnikow mehr Menschen getötet worden sind als mit der Atombombe. Über hundert Millionen Kalaschnikows sind seit ihrer Einführung hergestellt worden. Als Waffe des Warschauer Pakts, der Volksrepublik China, vieler Guerilla-, Rebellenbewegungen und Terroristengruppen haben die AK-47 und ihre Nachfolgemodelle, die AK-74, in den letzten Jahrzehnten ein Vielfaches mehr Menschen getötet als die so genannten Massenvernichtungswaffen. Michael Klare, Professor für Friedensstudien am Hampshire College in Massachusetts, nennt „halbwüchsige Männer mit AK-47“ das „tödlichste aller Kampfsysteme“. Bis zu neunzig Prozent ihrer Opfer seien Zivilisten, vor allem auch Kinder.

Seit dem Koreakrieg kamen Kalaschnikows und ihre Kopien in fast allen bewaffneten Konflikten zum Einsatz, oft auf beiden Seiten, besonders in Bürgerkriegen der Dritten Welt. Über ein Dutzend Länder haben die Waffe hergestellt oder tun dies noch: die ehemaligen Ostblockstaaten, Jugoslawien, Finnland, Nordkorea, China, Pakistan, Israel, Ägypten, Moçambique und Südafrika.

Rund sechzig Armeen weltweit rüsten ihre Infanterie mit Kalaschnikows verschiedener Versionen und Kaliber aus. Die verbreitetste Version ist die halbautomatische Waffe mit einem Magazin für 30 oder 40 Patronen; außerdem gibt es 75- und 90-Schuss-Rundmagazine und Kalaschnikow-Maschinengewehre mit Patronengurt. Die einfach gehaltene Kalaschnikow ist vielleicht nicht das präziseste Sturmgewehr, aber das widerstandsfähigste, Regen, Schlamm und Schnee können ihm nichts anhaben.

Terroristen sind auf der ganzen Welt mit Kalaschnikows bewaffnet. Selbst Osama bin Laden ließ sich mit der Waffe in der Hand fotografieren. Der bald 86-jährige Michail Kalaschnikow distanziert sich davon, wenn seine Waffe von Terroristen verwendet wird; besonders bin Laden stößt ihm sauer auf. Er habe die AK-47 für die Verteidigung seines Vaterlandes entwickelt; aus Verzweiflung, dass die Rote Armee den Deutschen nichts Ebenbürtiges entgegenzusetzen hatte, sagt er in den raren Interviews, die er gibt. Sieht man von den Grenzscharmützeln mit China am Ussuri im Winter 1969 ab, hat freilich nie eine AK-47 zur Verteidigung der UdSSR geschossen; milliardenfach dagegen zur Aggression im Namen der Sowjetideologie.

Die Sowjetunion und Russland tragen natürlich keine Schuld an allen militärischen Konflikten, in denen Kalaschnikows zum Einsatz kommen, aber wenn schon eine Kalaschnikow-Ausstellung im Kreml, dann wenigstens eine realistische. Eine, die den Ausstellungsgegenstand in allen Facetten beleuchtet und die auch einen Blick für die Folgen einer derartigen Erfindung hat. Eine derart verklärende, verherrlichende Ausstellung, die gerade im Kreml zu sehen ist, bildet lediglich Legenden im russischen kulturellen Selbstbewusstsein und entbehrt jeder Sinnhaftigkeit.
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"Es gibt tausende Möglichkeiten, sein Geld auszugeben, aber nur zwei, es zu erwerben: Entweder wir arbeiten für Geld oder das Geld arbeitet für uns."

Bernhard Baruch
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