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Alt 04-04-2005, 18:10   #191
Starlight
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Die Berufung von Bruder Ben

Wenn in zwei Wochen die Kardinäle zur Konklave in die Sixtinische Kapelle ziehen, dann werden sie sehen wie schwierig es ist, einen so erfahrenen und weisen Hirten zu ersetzen, wie Papst Johannes Paul II. einer war. Vor ähnliche Schwierigkeiten sieht sich die US-Regierung gestellt, die im nächsten Jahr einen Nachfolger für Alan Greenspan finden muss.

Für die Banker an der Wall Street ist Alan Greenspan durchaus was Johannes Paul II. für die Gläubigen im Rest der Welt war. Wann immer Greenspan spricht – in dieser Woche wird das am Dienstag und Freitag vor verschiedenen Gremien sein – hört der Markt gebannt hin. Interessanterweise sind die faktenreichen Analysen des 79-Jährigen oft weniger verständlich als die religiös-philosophischen Ausführungen des Papstes. Die richtige Zinspolitik scheint eben schwieriger zu finden zu sein als der Weg ins Himmelreich, das aber laut Matthäus 19,24 zumindest den erfolgreichen Spekulanten ohnehin verschlossen bleiben dürfte.

Wie dem auch sei: Das Pontifikat Johannes Paul II. ist zu Ende, und die Konklave muss einen Nachfolger bestimmen. Nach 26 Jahren steht die Kirche vor keiner leichten Aufgabe, länger als der Pole Karol Woityla haben schließlich nur Petrus selbst und Pius IX gedient.

Die Amtszeit von Alan Greenspan geht im Januar nächsten Jahres zu Ende – länger als er hat überhaupt niemand gedient. Greenspan steht der Fed seit 1987 vor und beriet in seiner Funktion als oberster Qährungshüter die Präsidenten Reagan, Bush I, Clinton und Bush II. Was die Personalpolitik in Washington leichter machen dürfte als im Vatikan: Der Fed-Chef wird nicht auf Lebenszeit verpflichtet.

Dennoch ist eine sorgfältige Auswahl angebracht. Als potenziellen Nachfolger für Greenspan nannten Experten in den letzten Jahren immer wieder Ben Bernanke, der seit drei Jahren im Vorstand der Notenbank sitzt. Am Montag macht Bernanke Schlagzeilen, und stellt die Wall Street vor ein Rätsel. Präsident George W. Bush, so heißt es aus dem Weißen Haus, wolle Bernanke zum Vorsitzenden seines wirtschaftspolitischen Beratergremiums CEA machen.

Das ist eine zweifelhafte Ehre für Bernanke. Denn einerseits kann sich niemand vorstellen, dass der Notenbanker einen so angesehenen Posten im Weißen Haus nur als Sprungbrett nutzen und sich nach acht Monaten an die Spitze der Fed verabschieden würde. Andere, wie der New Yorker Volkswirtschaftsprofessor Dr. Irwin Kellner, sehen durch ein Amt in der Bush-Regierung sogar Bernankes zukünftige Glaubwürdigkeit beschädigt. Immerhin ist die Fed nicht der Regierung oder gar einer politischen Partei verpflichtet, sondern streng unabhängig.

Andererseits stellt sich die Frage, welchen Einfluss der angesehene Fed-Mann in einem Gremium hätte, das zuletzt wenig Einfluss auf Präsident Bushs tatsächliche Wirtschafts- und Fiskalpolitik hatte. Regelmäßig wurden die Empfehlungen des CEA nämlich von anderen Beratern in Bushs Gremium übergangen. Bernkanke hingegen dürfte wenig Interesse an einem Posten haben, der ihn von einem der wichtigsten Entscheidungsträger der Fed zu einem Verkäufer für die nicht unumstrittene Politik des Präsidenten degradieren würde.

Dass Bernanke den Job beim CEA aber annehmen will, ließe natürlich auch einen Umkehrschluss zu. Unter einem so prominenten Sprecher könnte der Einfluss der Gruppe steigen.

Ob Bernanke den Posten erhält, wird in den nächsten Wochen von Senat entschieden. Ob Bernanke den Posten annehmen sollte, könnte sich unter Umständen erst viel später erweisen. Für eine Rückkehr zur Fed muss es dann nicht zwingend zu spät sein. Immerhin setzt bei der Notenbank niemand Unfehlbarkeit voraus und, wie gesagt, kein Posten in der amerikanischen Politik- und Finanzwelt wird auf Lebenszeit vergeben.

Markus Koch - © Wall Street Correspondents Inc.
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