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Alt 12-07-2007, 20:48   #702
Starlight
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Das große Geld mit dem Frust

Ob es am bösen Machwerk des Präsidenten liegt, an der zunehmenden Fettleibigkeit oder an Problemen in der Familie: Die Amerikaner werden immer depressiver. Darüber könnte sich nun wirklich nur der übelste Zyniker freuen, und als solcher will die Pharma-Industrie nicht gelten. Doch profitiert man ganz gerne von dieser Entwicklung.

Die PR-Funktionäre und Lobbyisten der Pharmariesen suchen dieser Tage händeringend nach einer Erklärung für eine unaufhaltsame Entwicklung, die ihnen Milliarden in die Hände spielt: Die Amerikaner nehmen immer mehr Antidepressiva. Das sei gut so, heißt es bei Pfizer und Co., denn es deute ja darauf hin, dass sich immer mehr Amerikaner bei psychischen Problemen helfen und diese nicht unbehandelt ließen.

Andere Experten sind kritischer: Dass mittlerweile mehr als 5 Prozent aller verschriebenen Medikamente Psychopharmaka sind, sei allein eine Folge des aggressiven Marketing, das die Branche für diese Mittel mache. „Leute sehen eine Werbung für ein Medikament, fragen ihren Doktor danach – und bekommen es sofort“, beklagt Dr. Robert Goodman, ein New Yorker Internist und Kritiker der Industrie.

Die macht zur Zeit das größte Geschäft ihrer Geschichte: Angefangen vom Marktführer Zoloft, von dem Pfizer im vergangenen Jahr mehr als 28 Millionen Packungen abgesetzt hat, über Effexor von Wyeth und Paxil von GlaxoSmithKline bis hin zu Fluoxetine von Eli Lilly… die großen Pharmazeuten wollen mit ihren Mitteln Trauer und Zwangsstörungen bekämpfen, bei Frust während Periode und Schwangerschaft helfen und Essstörungen heilen.

Dabei ist unumstritten, dass manche schwere Depression, die sonst bis zum Selbstmord führen kann, unbedingt mit Medikamenten behandelt werden muss. Amerikanische Ärzte verschreiben aber seit geraumer Zeit zu rasch zu viele Mittel, wie das Center for Disease Control beanstandet. Manchmal tun sie das, um Patienten schnell ruhig zu stellen, und manchmal, weil die Pharma-Riesen Druck machen oder – anders herum – hohe Quoten belohnen: Wer viele Medikamente absetzt, der darf sich über Einladungen zu Seminaren oder ähnliche Vergünstigungen freuen.

Da verliert mancher Arzt das Interesse daran, kleine Probleme und schwere Depressionen genauer zu untersuchen oder den Patienten gar an einen Spezialisten weiterzureichen. Dabei ließe sich manche Sorge ohne Pillen abschaffen. In vielen Fällen seien Patienten nur gestresst, meinte jüngst die Pharma-Expertin Elizabeth Cohen im Interview mit CNN. „Manchmal sollten Patienten einfach mal ausschlafen, sich gesünder ernähren, an die frische Luft gehen – und in einigen Wochen wieder zum Arzt gehen, wenn sich keine Besserung abzeichne.“

Die Schuld liege liegt aber nicht beim Patienten, sondern auf jeden Fall beim Arzt, meint Cohen, die Leute mit entsprechenden Erfahrungen kennt. Eine junge Bekannte habe Probleme mit ihrem Freund gehabt und das ihrem Arzt erzählt. „Sie hatte ihren Satz noch nicht zu Ende gesprochen, da steckte ihr der Arzt schon ein Döschen Pillen zu“, so Cohen.

Dr. Ronald Dworkin, ein Anästhesist aus Maryland, berichtet von einem noch drastischeren Fall. Eine Patientin habe ihrem Arzt erklärt, sie misstraue der finanziellen Haushaltsplanung ihres Mannes. Sie wolle diese überprüfen, aber ihren Mann nicht kränken. Statt der Patientin zu einem klärenden Gespräch zuhause zu raten, gab es umgehend ein Antidepressivum – „damit Sie sich besser fühlen“, wie der Arzt erklärte. Die Frau war damit zufrieden, und die Familie kurz darauf pleite. Der Ehemann hatte die Finanzen tatsächlich nicht im Griff gehabt.

Markus Koch - © Wall Street Correspondents Inc
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