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Alt 12-10-2007, 20:36   #760
Starlight
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Ein Nickerchen auf dem Parkett

Mit ihrer neoklassizistischen Marmor-Fassade, den sechs massiven Säulen und der traditionsreichen Adresse „11 Wall Street“ steht die New York Stock Exchange stolz wie eh und je am Südzipfel von New York City. Doch während draußen die Touristen Erinnerungsfotos knipsen, bröckelt es hinter den Mauern.

Das Management der NYSE Euronext hält wacker an der Devise fest, dass man den Parketthandel nicht sterben lassen wird. CEO John Thain hält das menschliche Element, das Broker und Spezialisten in den Aktienhandel bringen, für unverzichtbar – jedenfalls offiziell. Ansonsten ist es längst kein Geheimnis mehr, dass der elektronische Handel weit mehr als die Hälfte des täglichen Volumens ausmacht. Broker sind an nur noch rund 40 Prozent der Transaktionen beteiligt, Spezialisten nur noch an etwa 3 Prozent.

Auch als Informationsbörse hat das Parkett an Einfluss verloren. „Das Parkett ist tot“, sagt James Angel, Finanzprofessor der Georgetown University und NYSE-Experte. „Die Zeiten als Billy und Vinny noch Infos ausgetaucht und den besten Kurs untereinander ausgehandelt haben sind vorbei.“ Tatsächlich: Seit das Internet den Informationsfluss beschleunigt hat, werden auf dem Parkett höchstens noch Meinungen und Einschätzungen ausgetauscht – die Kurse bestimmt derweil der Markt.

Im neunten Stock des mehr als hundertjährigen Gebäudes, wo das Management der nach wie vor bedeutendsten Börse sitzt, glaubt man dennoch nicht an ein Ende des Parketthandels. Konzernweit – also den elektronischen Handel und die Euronext mit ihren Börsen in Paris, Amsterdam, Stockholm und Lissabon eingerechnet – kommt zwar nur noch 10 Prozent des Umsatzes von den Brettern, die am Finanzplatz New York einmal die Welt bedeuteten. Doch das soll wohl nicht weiter verkleinert werden, nachdem im November die laufenden Renovierungen abgeschlossen sind.

Doch die haben es in sich. Bereits im Februar und von der Öffentlichkeit unbemerkt hat die New York Stock Exchange einen ihrer vier Handelsräume im Nachbargebäude 30 Wall Street geschlossen. Ende November soll auch der sogenannte Blue Room dicht gemacht werden, in dem heute schon nicht mehr als eine Handvoll Broker arbeiten. In dem 1500 Quadratmeter großen Blue Room, der 1969 eröffnet wurde, erinnert schon seit Monaten nichts mehr an die einst pulsierende Hektik früherer Zeiten – selbst zu Stoßzeiten könnte man hier ungestört ein Nickerchen machen.

Mit dem Main Room, dem größten Handelsraum, und der angrenzenden Garade bleibt dem New Yorker Parkett nach November etwas weniger als die Hälfte seiner bisherigen Größe. Der Verlust an Arbeitsplätzen ist vergleichbar. Es vergeht keine Woche, in der nich ein bekanntes Gesicht verschwindet.

Auf das direkte Umfeld der Wall Street hat das bereits gravierende Auswirkungen. Während sie Stellen kürzen, verkleinern sich die Broker- und Spezialistenhäuser auch in ihren eigenen Büros. Mitten im New Yorker Finanzzentrum, wo einst jeder Turm von einer Großbank regiert wurde, breiten sich luxuriöse Eigentumswohnungen aus, deren Interieur von Philip Starck und seinesgleichen designt wird.

Die Wall Street selbst wandelt sich zur Einkaufsmeile. Direkt gegenüber der Börse hat ein Hermes-Laden eröffnet, in dem Schals hunderte von Dollar kosten, einen Block weiter wird eine Tiffany-Filiale eingerichtet, die noch in diesem Jahr am Weihnachtsgeschäft teilhaben will.

Einen Steinwurf entfernt von der Wall Street, im Rathaus der Stadt New York, sieht man den Trend gelassen – zumal man den Siegeszug der Technologie auch nicht aufhalten kann. „Was auch passiert, die NYSE wird immer an der Wall Street präsent sein“, meint Dan Doctoroff, der Wirtschaftsbürgermeister der Regierung Bloomberg. „Allein wegen der enormen Geschichte des Hauses wird sie immer das finanzielle Zentrum der Welt sein.“

Die Touristen werden das genauso sehen. Seit den Terroranschlägen vor mehr als sechs Jahren kommen sie ohnehin nicht mehr in die Börse hinein. Und während sie draußen knipsen, können sie sich weiterhin das hektische Treiben und das Geschrei auf dem Parkett vorstellen – die Bilder davon gibt es, edel gerahmt, im Antiquariat knappe fünf Minuten entfernt.

Markus Koch - © Wall Street Correspondents Inc
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