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Alt 23-09-2005, 20:24   #321
Starlight
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Unsinnige Spekulationen um Rita

An der Wall Street bestimmt eine Frage den ganzen Freitagshandel: Fegt Rita am Wochenende mit Stärke 3 oder 4 oder 5 über die texanische Golfküste. Alle paar Minuten verfolgt man die Berichte der Meteorologen, die Spielmacher in einer großen Wette geworden sind. Welche Windstärke und -richtung kostet wie viel Geld?

Es ist ein bizarres Spiel, das Stunden vor dem Hurrikan abläuft. Denn während Anleger und Öl-Spekulanten ihre Preise an jeder Windboe neu ausrichten, ist doch klar, dass ein genaues Schadensmaß – in Dollar, Cent und Kursporzenten – vor dem Hurrikan gar nicht zu ermitteln sein kann. Niemand kann einschätzen, wie viele Häuser weggeblasen, wie viele Stromkunden von Netz getrennt, wie viele Straßen beschädigt, Autos demoliert und Arbeitsplätze vernichtet werden. Auch nicht, wie viele Geschäfte wie lange geschlossen bleiben müssen. Auch nicht, wie viele Menschen von Rita getötet, von Bauteilen erschlagen, von Wassermassen ertränkt werden.

Klar ist nur: Rita wird in der Gegend um Houston verheerende Schäden anrichten, und manche Aktie wird das über Wochen hinweg zu spüren bekommen. Im Pfad des Hurrikans liegen die Firmenzentralen von gut einem Dutzend der größten Firmen in Corporate America, dazu sind die Öl-Plattformen und Raffinerien geschlossen, die gut ein Drittel der US-Vorräte verarbeiten.

Ein Überblick, von Südwest nach Nordost: Bei Corpus Christi liegen drei Raffinerien, in denen Valero 340 000 Fass, Flint Hills 288 000 Fass und Citgo 156 000 Fass pro Tag verarbeiten. In Sweeney verarbeitet ConocoPhilips 216 000 Fass pro Tag, und im benachbarten Freeport hat mit Dow Chemical einer der größten Chemiekonzerne der Welt seinen Sitz. Sechs Werke im Umkreis hat man bereits geschlossen, doch kämpft das Unternehmen folglich nicht nur mit Produktionsausfällen. Kaum ein Sektor ist so Öl-intensiv wie die Chemie, und für Dow sind bereits im Vorfeld die Kosten enorm gestiegen.

Ein paar Kilometer weiter, im Houston Ship Channel, liegt die größte Öl-Raffinerie der Welt, in der ExxonMobil täglich 557 000 Fass verarbeitet und damit etwa 4 Prozent des US-Bedarfs. BP betreibt in direkter Nachbarschaft die drittgrößte US-Raffinerie, die mit täglich 460 000 Fass für weitere 3 Prozent des US-Marktes zuständig ist. Zwischen den beiden Werken stehen weitere Raffinerien von Shell Oil (340 000 Fass), Lyondell-Citgo (268 000), zwei Mal Valero (243 000 und 135 000), Astra (100 000) und Marathon Oil (72 000).

Damit nicht genug: Zwischen Beaumont und Port Arthur und Lake Charles im Nachbrastaat Louisianna stehen weitere Raffinerien mit einer Gesamtkapazität von 1,6 Millionen Fass pro Tag, darunter Werke von ChevronTexaco, Total und Motoiva, einem Joint Venture mit saudischen Investoren.

In Houston schließlich finden sich due Hauptquartiere anderer Unternehmen, denn die Region lebt nicht etwa vom Öl allein. Da wäre mit dem Texas Medical Center der weltgrößte private Arbeitgeber, auch die NASA sitz in der texaniscen Küstenstadt. Weitere Konzerne mit Sitz in Houston sind Halliburton, Sysco Corp., Waste Management, Continental Airlines, Cooper Industries Ltd., sowie die Energieriesen El Paso Corp., Centerpoint Energy, Inc. und Dynegy Inc. Nicht zu vergessen: der Frachthafen von Houston, der einer der wichtigsten Punkte im amerikanischen Import und Export ist.

Schwer einzuschätzen sind auch die Schäden außerhalb der Wirtschaft. Houston ist die viertgrößte Stadt der USA mit einer Bevölkerung von über 2 Millionen Menschen. Die meisten sind bereits evakuiert, einen Tag vor Rita änderten die Behörden noch die Fahrtrichtung auf den wichtigsten Autobahnen, die danach achtspurig aus Houston herausführten.

Insofern ist vor Rita wenigstens eine Tatsache klar: So verheerend der Hurrikan auch sein mag, die Gegend ist besser vorbereitet als es New Orleans vor Katrina war. Auch liegt an der texanischen Küste keine Siedlung unter den Meeresspiegel, weshalb jegliche Wassermassen von alleine ablaufen werden. Mit dem zweiten Unwetter binnen weniger Wochen dürfte man also besser zurechtkommen als mit dem ersten Hurrikan – doch damit müssen die Spekulationen enden.

Also noch ein paar Zahlen: Mit Windgeschwindigkeiten von etwa 220 Stundenkilometern ist Rita am Freitagmittag „nur noch“ ein Hurrikan der Klasse 4. Was das heißt, wird Amerika am Samstag und Sonntag sehen, die Wall Street wird am Montag auf erste Schadensmeldungen reagieren.

Markus Koch - © Wall Street Correspondents Inc.
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