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Alt 16-07-2008, 17:38   #870
Starlight
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Steuersorgen in Jersey und Washington
Mittwoch, 16. Juli 2008

In Jersey City wird gewählt. Das interessiert mich, denn ich wohne dort. In einem kleinen, aber netten Haus direkt am Park und nur eine halbe Stunde von Manhattan entfernt. Die Gespräche am Rande des Wahlkampfs in der Stadt mit einer Viertelmillion Einwohnern zeichnen ein typisches Bild von einem fehlgeleiteten Amerika.

Den Rest der Welt muss eigentlich nicht interessieren, ob Jeremiah Healy im Rathaus verbleiben darf oder ob sich der frühere Mayor Brett Schundler zurückmeldet, der zwischenzeitlich erfolglos für den Posten des Gouverneurs von New Jersey kandidiert hatte. Oder ob möglicherweise die Witwe eines früheren Bürgermeisters, die Staatssenatorin Sandra Cunningham, das Werk ihres verstorbenen Gatten fortsetzen wird.

Trotzdem lohnt es sich, in dieser frühen Phase des Wahlkampfes einmal hinter die Kulissen zu schauen. So hat der „Jersey City Reporter“ in seiner letzten Ausgabe Bürgerinnen und Bürger befragt, die ihre Forderungen an den neuen Chef im Rathaus formulieren sollten. Doch denen fällt nur ein wichtiger Aspekt ein: „Hausbesitzer wollen wissen, dass sie auf Stadt- und Kreisebene keine Steuereröhungen befürchten müssen“, meint etwa der Immobilienmakler Antonio Dabu.

Doch der sagt das nicht aus dem Blickwinkel seines Jobs, sondern bringt auf den Punkt was Jersey City – und im weiteren Sinne alle anderen Amerikaner – bewegt: das Leben muss weiterhin billig sein. Die Bush-Regierung hat mit ihrer platten Polemik in den letzten Jahren erreicht, dass niedrige Steuern als ein Grundrecht aller Bürger gesehen werden, auch wenn das langfristig nicht realisierbar ist.

Für Jersey City auf keinen Fall, denn der Stadt stehen einige wichtige Investitionen bevor. Die Infrastruktur der immerhin zweitgrößten Metropole des Staates New Jersey, die sich wegen des anhaltenden Zustroms ins benachbarte Manhattan auf weiteres Bevölkerungswachstum einstellt, ist in katastophalem Zustand. Selbst in den besseren Vierteln erinnert manche Straße an einen Schotterpfad in der Dritten Welt. Die wichtigste Autobahnbrücke wurde jüngst von Statikern überprüft werden und muss für mindestens 10 Millionen Dollar ausgebessert werden.

Strom- und Telefonkabel sind größtenteils überirdisch verlegt und hängen manchmal bedrohlich tief über Gärten und Straßen. Die Kanalisation ist mit jedem größeren Regensturm überfordert. Straßen und Keller fluten regelmäßig. Zudem ist die Stadt schmutzig, der See im größten öffentlichen Park dicht bedeckt mit Algen.

Doch es stehen nicht nur Umbauarbeiten an. Der Stadtkern nahe des historischen „Journal Square“ lockt mit seinen Ramschläden und Billigkiosken niemanden an. Ganze Straßenzüge müssen dringend renoviert werden, am wichtigsten Bahnhof stehen sogar Abrissarbeiten an, durch die eine Reihe brüchiger und verlassener Pizza-Baracken einem modernen Wolkenkratzer weichen soll.

In all dem liegt die Zukunft von Jersey City, doch die Bürger haben dafür keinen Blick. Steuersenkungen sind das einzige, was eine Mehrheit interessiert – ganz wie das auch auf US-Ebene gilt. Erst in dieser Woche hat Präsident Bush in seiner Rede zur Wirtschaft immer wieder betont, dass die schlimmste Gefahr für Amerika seitens der Demokraten droht, die nämlich die Steuern anheben und die Bürger abzocken wollen.

Hinter diesem Geschwätz steckt Kalkül. Bush hat die Steuern in den letzten sieben Jahren derart gesenkt – (was in Kriegszeiten übrigens noch nie vorkam!) – dass nun ein gewaltiges Haushaltsdefizit besteht. Den Demokraten wird im Falle einer Machtübernahme im nächsten Jahr gar nichts anderes übrig bleiben, als über Steueranhebungen die Staatskassen wieder zu füllen. Damit werden sie den Republikanern Munition für den Wahlkampf in vier Jahren liefern.

So gesehen ist das Wohl der Nation endgültig zum Politikum geworden. In den USA und in Jersey City, wo ich persönlich nicht damit rechne, dass die Stadt in dieser oder der nächsten Legislaturperiode aus ihrem Tiefschlaf erwachen und ihr Potenzial verwirklichen wird.
© Inside Wall Street
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