Thanksgiving… wofür eigentlich?
An der Wall Street ist zur Zeit vielen nicht klar, wofür sie dem Herrn genau danken sollen. Immerhin haben die großen Indizes in den letzten Wochen satte 10 Prozent verloren und damit die schönen Jahresgewinne fast komplett abgegeben. Doch ist am Donnerstag nun einmal Thanksgiving – also wird auch gefeiert.
Es kommt den Amerikanern natürlich entgegen, dass Thanksgiving – mehr noch als Weihnachten, Ostern und sonstige Feste – dermaßen mit Traditionen und Riten überladen ist, dass man ohnehin kaum Zeit für Danksagungen hat. Statt sich mit der Herkunft des Feiertages zu beschäftigen und die Ernte zu loben, müssen in stundenlanger Tradition der Truthahn gestopft, die Kartoffeln gesüßt, die Preiselbeeren gerührt werden.
Wer nicht selbst in der Küche steht, steht wahrscheinlich im Stau, wartet auf einen Anschlussflug oder plant den Tag nach Thanksgiving: Der heißt „Black Friday“ und ist der wichtigste Einkaufstag der Amerikaner.
Diese modernen Traditionen haben an Thanksgiving längst das Kommando übernommen, und entsprechend kommen Politik und Unternehmen den Feiernden entgegen. Der Einzelhandel beispielsweise mit Margen erschütternden Sonderangeboten, denn gut die Hälfte der Amerikaner wird am Wochenende in den Läden erwartet, um dort mehr als 40 Prozent des gesamten Weihnachtsbudgets auszugeben.
Dass die Amerikaner auch Zeit zum Shoppen haben und nicht allzu lange im Reisestress stecken, ermöglicht in diesem Jahr Präsident George W. Bush. Der hat wenige Tage vor dem Fest neuen Flugraum geöffnet, der sonst dem Militär zu Übungs- und Überwachungszwecken dient. Die Airlines können nun mehr Maschinen auf mehr Routen schicken, was die Schlangen am Check-In erheblich verkürzen sollte.
Bush, sonst dauerhaft von historisch schwachen Umfragewerten geplagt, hat sich mit seinem ungewöhnlichen Einsatz zum absoluten Gewinner der Woche gemacht. Immerhin sind Amerikaner parteiübergreifend erfreut, wenn sie an Thanksgiving weniger lange reisen müssen und früher bei den lieben Verwandten ankommen – entsprechend wird der Präsident in Dinner-Diskussionen vielleicht etwas besser wegkommen als sonst.
Zumal Bush noch eine gute Tat vollbracht hat. Gemäß einer Jahrhunderte alten Tradition hat der Präsident am Tag vor Thanksgiving zwei Truthähne begnadigt – und für solcherlei humane Akte ist Bush sonst nicht berühmt. Die per Internet-Umfrage getauften Vögel „May“ und „Flower“ sind nun dem Metzger entkommen, werden als Grand Marshals bei der Thanksgiving-Parade in Disneyland auftreten und dürfen dort, auf dem Hof von Oma Duck, ihren Lebensabend verbringen. Damit haben zumindest die Truthähne einen Grund dankbar zu sein.
Markus Koch - © Wall Street Correspondents Inc
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