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Alt 05-12-2006, 19:44   #593
Starlight
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Weihnachtsmann und Job-Killer

Der sonst so biedere John Thain genoss seine erste vorweihnachtliche Bescherung sichtlich. Flankiert von zwei Supermodels warf er mit Superlativen nur so um sich: Der Weihnachtsbaum der Börse sei der schönste in ganz New York, der älteste sowieso, und als hätte keiner das Lichterspektakel am Rockefeller Center gesehen, applaudierten die umstehenden Börsianer brav.

Angesichts der jüngsten Spekulationen um den Handel im letzten Monat des Jahres, und darüber, ob denn nun mit einer Santa-Claus-Rallye noch zu rechnen sei, war völlig klar, wernn der Chef der New Yorker Börse mit seiner großen Rede beeindrucken wollte: den Weihnachtsmann selbst. Viele an der Börse sind abergläubischer als sie das je zugeben würden, und mancher glaubt ganz fest, dass die 10 000 Lichter am Tannenbaum und die fußballgroßen Kugeln den Bärtigen doch noch einmal zurückbringen könnten.

Käme Santa Claus tatsächlich noch einmal vorbei, wäre das nicht weniger als eine Sensation. Die amerikanischen Börsen haben bereits eine fünfmonatige Rallye hinter sich und müssen sich auf einem wackligen konjunkturellen Fundament behaupten. Nach einer Rallye zum Weihnachtsfest sieht das eigentlich nicht aus, doch hat der Monat zunächst ganz gut begonnen. Dass die Blue Chips am Montag im Plus schlossen und einen zweistelligen Prozentverlust bei Pfizer wegsteckten, ist schließlich nicht normal.

Solcherlei Ereignisse nun machen es den Börsianern einfach, ihrem Berufsoptimismus nachzugehen. Doch immer wieder dringen düstere Töne durch. „Wer ist denn der Hübsche mit der Brille?“, witzelte ein Händler am Montag kurz vor der Schlußglocke und deutete auf John Thain, der inmitten der Supermodells auf den Countdown wartete. „Das ist der Mann, der dir bald deinen Job streicht“, witzelte ein anderer zurück.

Gut, dass auf dem Parkett alle Spaß verstehen. Die lockere Art der Händler hilft ihnen über eine tiefe Existenzkrise hinweg, denn die Reformen der Börse werden über kurz oder lang tatsächlich dazu führen, dass mancher Händler sich nach einer neuen Stelle umsehen darf. Die sukzessive Umstellung auf den elektronischen Handel wird künftig mehr und mehr Geschäft von dem einst so geschäftigen Parkett nehmen.

Sicher wird die Wall Street ihr Parkettgeschäft nicht ganz so drastisch zurückfahren, wie das andernorts – zum Beispiel in Frankfurt – geschehen ist. Immerhin läuft in Amerika auch bei einer Börse viel über die mediale Vermarktung, und die baut auf das geschäftige Treiben im Hintergrund der Fernsehreportagen. Doch steht die Kostensenkung im Vordergrund, und mit der eben beschlossenen Zusammenlegung der regulatorischen Behörden ist es an der NYSE lange nicht getan.

Auch mit dem Verzicht auf einen eigenen Friseur in der Börse und Kürzungen in Lounge und Kantine wird es auf Dauer nicht getan sein. Nein, es wird ruhiger werden auf dem Parkett, denn nur so kann die Börse auf lange Sicht wieder wachsen. 2006 war ein gutes Jahr für die Indizes, doch in bezug auf Börsengänge hinkt der wichtigste Handelsplatz der Welt hinter früheren Vergleichsdaten zurück.

All das passte nicht in die mit Superlativen durchsetzte Rede von John Thain. Und vielleicht gehörte es so kurz vor Weihnachen auch nicht hinein. Mit dem „schönsten Weihnachtsbaum der Stadt“ und einigen Weihnachtsliedern vom Börsenchor dargeboten wollte man schließlich Santa Claus anlocken. Wenn der schon nicht alle Arbeitsplätze an der Wall Street sichern kann, so doch wenigstens noch ein paar Indexpunkte zum Jahresausklang.

Markus Koch - © Wall Street Correspondents Inc
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