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Alt 02-11-2006, 19:17   #577
Starlight
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Potemkinsche Dörfer in US-Malls
In den Wochen bis Weihnachten mag der Einzelhandel mehr als sonst im Vordergrund stehen. Doch auch außerhalb der Fest-Saison ist die Branche spannend, weil nah am Verbraucher. Analysten und Anleger warten daher nicht untätig auf Umsatzzahlen, sondern sehen sich immer wieder nach richtungsweisenden Trends um.

Einen neuen Trend können Amerikaner derzeit in Malls im ganzen Land entdecken. Immer mehr Modeketten stellen ein Konzept auf den Kopf, das dem Einzelhandel mehr als hundert Jahre lang gedient hat: das Schaufenster. Statt hinter großflächigen Scheiben die neueste Ware auszulegen und Kunden zu ködern, verstecken sich manche Läden hinter Backsteinmauern und hölzernen Fensterläden.

Dabei schämt man sich nicht etwa für ein schlecht ausgesuchtes Sortiment. Vielmehr schafft man Atmosphäre durch potemkinsche Bauten, die weniger die kalt geflieste Mall mit Gedränge und Fast-Food repräsentieren als das Flair einer Altstadt. In manchen Einkaufsmeilen in New Jersey sieht es mittlerweile aus wie in New Yorks schicken Greenwich Village – oder jedenfalls so, wie sich New Jersey das Greenwich Village vorstellt.

Trendsetter ist – wie oft im Mode-Bereich – Abercrombie & Fitch. Das Unternehmen steht nicht nur hinter der gleichnamigen Marke, sondern auch hinter Ruehl No. 925 und Hollister, die das A&F-Publikum auf Mitt-Dreißiger und Surf-Fans ausdehnen. So unterschiedlich die Zielgruppen, so unterschiedlich das Ladendesign: Hinter dem Altstadt-Bau verbirgt sich Ruehl, während die Westküsten-Mode von Hollister in einer Art Surf-Shop mit rohen, weißen Bretterwänden feilgeboten wird.

Das verbessert nicht nur die Einkaufs-Atmosphäre, sondern soll auch mehr Kunden in den Laden ziehen. Der Versuch ist gewagt, wie viele Einzelhandels-Analysten bestätigen. Denn nicht jeder Mall-Kunde kommt mit ausreichend Neugier, um mangels Schaufenster hinter die Kulissen zu blicken. Manche laufen einfach weiter. Doch erste Studien haben ergeben: Vor allem das jüngere Publikum fühlt sich von dem weniger transparenten Design eher angezogen als abgeschreckt.

Für junge Kunden scheint der „versteckte Verkauf“ der neuesten Mode sogar deren Schein von Exklusivität zu erhöhen. Branchenanalyst Baco Underhill vergleicht die blickdichten Mauern mit der Samtkordel, mit der New Yorker Clubs abgesperrt sind – und vor deren Türen sich am Wochenende hunderte von Fans aufreihen, die begierig auf Einlass warten.

Dass sich im Gegenzug manch ein Kunde in den Laden verirrt, der gar nicht zum angebotenen Sortiment passt, stört die Unternehmen nicht. Älteren Herren im dunklen Anzug müsse man zwar hin und wieder erklären, dass sich die laute Musik und bunte Mode mit provokanten Schriftzügen an 20-jährige Mädchen richte, geben Angestellte bei A&F in New Jersey zu, doch stört sich daran keiner.

Markus Koch - © Wall Street Correspondents Inc.
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