Geniale Strategie der Moderne
von Dr. Bernd Niquet
Meine Guete war das wieder eine Woche. Am Freitag versucht
die Telekom, das Telefon in der Wohnung unter mir anzu-
schliessen. Ob es geglueckt ist, weiss ich nicht. Doch seit-
dem ist meine Leitung tot. Was fuer ein Erfolg! Nun beginnt
wieder der Leidensweg durch die Callcenter. Da kann man etwas
erleben, das weiss jeder, der das schon einmal durchgemacht
hat, und das hat jeder schon einmal durchgemacht. Ich denke,
dass es durchaus einmal einen allgemeinen Blick wert ist,
denn hinter den Callcentern der grossen Unternehmen verbirgt
sich meines Erachtens nichts weniger als das gesamte Wesen
unserer heutigen Zeit.
In keinem Moment ist der moderne Mensch so ohnmaechtig und so
machtlos wie in dem Moment, in dem er mit einem Unternehmen
ueber ein Callcenter kommunizieren muss. Man kann reich sein,
kann maechtig sein, kann erfolgreich sein, Dinge blitzartig
begreifen, persoenlich ueberzeugend sein, Menschen fuer sich
einnehmen koennen, hyperintelligent sein - alle diese Eigen-
schaften nuetzen bei einem Callcenter nichts, aber auch gar
nichts. Hier wird jeder in die Norm gepresst. Der moderne
Mensch mit seiner ganzen Freiheit und seinen historisch voel-
lig einmaligen Moeglichkeiten - hier muss er von allem Ab-
stand nehmen. Hier ist er nur noch eine Nummer.
Es handelt sich um die voellige Entpersonalisierung der Kom-
munikation. Hier redet man nicht mehr mit einem Menschen,
sondern mit einer Maschine. Teilweise redet man wirklich fak-
tisch mit Maschinen, meistens jedoch mit auf Maschinenfunkti-
on reduzierte Menschen. Die schlimmen Zukunftsraeume von Or-
well und Huxley sind hier bereits Wirklichkeit geworden.
Am gravierendsten ist jedoch der Rueckstau der Gefuehle. Das
klingt erst einmal laecherlich, bietet aber meines Erachtens
sogar ein Verstaendnis selbst fuer die Politikverdrossenheit
der Gegenwart. Beim direkten Kontakt zwischen Menschen kann
man seinem Unmut Luft machen. Schmeckt das Essen in Restau-
rant nicht, kann man des dem Kellner sagen oder sogar den
Chef kommen lassen. Ist man mit dem, was die Autowerkstatt
gemacht hat, nicht zufrieden, hat man dennoch einen persoen-
lichen Ansprechpartner. Das wird zwar objektiv nicht viel
nuetzen, weil auch dieser keine Zugestaendnisse machen wird,
aber subjektiv schon, denn es ist ein menschlicher Kontakt,
so wie die Kontakte zwischen den Menschen seit Hunderttausen-
den von Jahren abgelaufen sind.
Heute hingegen kann man seinem Aerger keine Luft mehr ver-
schaffen. Was soll es, die nette Dame in der Stoerungsstelle
der Telekom anzubruellen? Sie kann doch nichts dafuer! Und
genau hier liegt der Schluessel zum Verstaendnis des allge-
meinen Prinzips. Denn Callcenter sind ja nur eine Auspraegung
der allgemeinen Entwicklung unseres modernen Lebens. Und die-
ses allgemeine Urteil lautet: Heute kann ueberhaupt niemand
mehr etwas dafuer! Niemand kann heute ueberhaupt noch etwas
fuer irgendetwas!
Fuer die Unternehmen ist das eine beinahe geniale Strategie,
den Kundenfrust abzuwimmeln. Natuerlich haette ein Unterneh-
men mit persoenlichen Ansprechpartnern ungeahnte Marktchan-
cen, doch die Gesetze des Marktes sprechen dagegen. Doch auch
bei der Politik ist es nicht anders: Wer traegt beispielswei-
se die Verantwortung dafuer, wenn die Gesundheitsreform jetzt
scheitert? Wem sollte der Buerger bei einem Scheitern das
Vertrauen entziehen? Diese Frage ist nicht zu beantworten.
Durch das Gewusel der Tintenfischarme dringt niemand mehr
durch. Wie bei einem Callcenter. Mit dem Effekt, dass die
Menschen sich ganz zurueckziehen. Wer nicht mit der Telekom
zu tun haben muesste, wuerde sich freiwillig der Bestrafung,
mit dieser zu kommunizieren, auch nicht aussetzen. Und das
ist der entscheidende Unterschied: Der Einzelne braucht das
Telefon zum sozialen Ueberleben. Die Gesellschaft als Ganzes
koennte hingegen darauf verzichten. Bei der Politik ist es
umgekehrt: Die Gesellschaft als Ganzes ist in ihrem Ueberle-
ben an die Politik gekoppelt. Der Einzelne hingegen kann die
Politik abwaehlen. Das jedoch heisst: Wir befinden uns in
hochgefaehrlichem Territorium.
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Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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