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Alt 18-05-2006, 20:45   #483
Starlight
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Die Wall Street sucht ihr Problem

Der größte Kurssturz in drei Jahren tut der Wall Street nachhaltig weh. Einen Tag nachdem die Blue Chips um 214 Zähler gefallen sind, die Nasdaq zum siebten Mal in Folge schwächer schloss und sämtliche bisherigen Jahres-Gewinne ausradierte, sucht man auf dem Parkett weiter nach Gründen für den Einbruch.

Die Suche ist nicht leicht. Denn wohl sind sich sämtliche Experten einig, dass die US-Wirtschaft ein Problem hat. Doch deuten die einen auf steigende Inflation und die anderen auf Schwäche – und beide haben genug Daten, um ihre These zu belegen. So wundert es nicht, dass trotz der jüngsten Daten zur Preisentwicklung und der Zins-Panik am Mittwoch die Fed-Futures auf eine 50-prozentige Chance für eine weitere Zinsanhebung im Juni deuten.

Dabei scheinen auf den ersten Blick – und in Anbetracht der jüngsten Zahlen – die Inflationssorgen zweifelsfrei begründet zu sein. Die Zins-Frage sollte nicht lauten, ob die Fed noch einmal eingreift, sondern wie oft und wie stark. Fassen wir zusammen: Der jüngste Arbeitsmarktbericht deutet auf starkes Lohnwachstum. Die Energie- und Rohstoffpreise sind so hoch wie seit Jahren nicht mehr, manche Futures handeln auf einem Niveau, das die Wall Street seit einem Vierteljahrhundert nicht gesehen hat.

Dazu wird der Trend immer deutlicher, dass Unternehmen die hohen Kosten an Kunden weitergeben. Das fing vor einem Jahr bereits an, als die Holzpreise im Baumarkt stiegen, weil die Transportkosten zugenommen hatten. Das ging im Konsumbereich weiter, als Colgate-Palmolive Preise erhöhte. Zuletzt hat der Chemie-Riese DuPont erklärt, aufgrund der um 60 Prozent gestiegenen Materialkosten die Preise in sämtlichen Produktgruppen anzuheben, und wegen des hohen Silberpreises verlangt Fuji mehr für seine Filme.

In Finanzforen werden die Proteste immer lauter, in denen sich Anleger gegen den ewigen Fokus der Analysten auf die Kern-Inflation wehren. Was nützt es denn, die volatilen Bereiche Energie und Lebensmittel aus der offiziellen Inflationsberechnung herauszunehmen, wenn diese doch immer rasanter steigen, die Lebenshaltungskosten aller Amerikaner erhöhen und über die Erzeugerpreise nun auch sichtbar auf die Produktinflation durchdrücken?

Doch halt, rufen die Skeptiker, und verweisen auf einen ganzen Schwung von Daten, der die Inflationsorgen vertreiben soll. Unerwartet schwache Einzelhandelsumsätze werden da angeführt und ein Arbeitsmarkt, der sich nur zögerlich erholt. Der Immobilienmarkt macht Sorgen und vor allem auch das zuletzt rapide sinkende Verbrauchervertrauen. „Wenn der Verbraucher einbricht, muss die Fed sich bewegen“, meint Drew Matus, der Chef-Volkswirt von Lehman Brothers – und plädiert damit für ein Ende der Zinsrunde.

Zwischen den beiden Parteien wird es so bald keine Einigung geben, was den Markt vor allem auf dem aktuell hohen Niveau noch eine Zeit lang belasten dürfte. Umso mehr dürfte Ben Bernanke froh sein, dass die nächste Notenbank-Sitzung erst in sechs Wochen ansteht. Bis dahin werden noch viele Konjunkturdaten gemeldet, auf die die Fed laut ihrem jüngsten Statement ja flexibel reagieren will.

Nicht unerwähnt soll bleiben, dass seit Mittwoch nicht nur Konjunkturexperten etwas zum Grübeln haben, sondern auch die Verschwörungstheoretiker. Die schauen auf den Sturz der Blue Chips um 214 Punkte und erinnern sich: Auf den Tag genau 214 Jahre ist es her, dass New Yorker Broker an der Wall Street das „Buttonwood Agreement“ unterzeichneten und damit die New York Stock Exchange gründeten. Was uns das wohl sagen will?

Markus Koch © Wall Street Correspondents Inc.
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