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Alt 14-05-2006, 18:08   #130
621Paul
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Das Bildnis unserer Gesellschaft

von Dr. Bernd Niquet

Eigentlich mag ich es ja nicht, Entwicklungen von Nationen
und Gesellschaften mit den Entwicklungen einzelner Menschen
zu vergleichen - doch hier draengt sich der Vergleich in ei-
ner Art und Weise auf, dass ich ihn nicht mehr umgehen kann.

Wie ist es eigentlich, wie laeuft das Leben eines Menschen
ab?

Meine Beobachtungen sehen folgendermassen aus: In der Jugend
ist man frei und risikolustig. Alles ist moeglich und nichts
ist wirklich gefaehrlich. Alles ist erlaubt - und wer viel
verbietet und erschraenkt, ist nur ein alter Spiesser. Regeln
sind nur fuer das ganz Grobe und fuer die wenigsten Dinge
erforderlich, ansonsten schraenken sie einen nur ein und ver-
hindern den Spass und die Kreativitaet.

Dann wird man aelter, steigt in die Berufswelt ein, lehnt
sich erst gegen das ganze neue Regelwerk auf, arrangiert sich
dann aber frueher oder spaeter und mehr oder weniger damit.
Und dann spielt man mit - und wird selbst aktiv. Auf der be-
ruflichen wie auf der persoenlichen Ebene.

Frueher war es egal, ob man auch bei kaltem Wetter nur ein
T-Shirt anhat oder sich auf einen kalten Stein setzt. Mit
zunehmendem Alter ist das jedoch alles nicht mehr so leicht,
weswegen man Regeln und Gesetze fuer sich selbst erfindet:
Wer zu duenne Sachen anhat, bekommt eine Erkaeltung! Setz
dich nicht mehr auf kalte Unterlagen, sonst passiert etwas
mit der Blase oder der Prostata!

Essen muss man jetzt ebenfalls regelmaessig. Vorher war es
egal, wann und was man zwischen die Kiemen bekam. Beim Alko-
hol ebenfalls. Doch heute gibt es festgelegte Zeiten, festge-
legte Orte, festgelegte Mengen und festgelegte Inhalte und
Zutaten. Man fuehlt sich so wohler, man liebt die selbst ge-
setzten Regelmaessigkeiten - und zwar gleich aus zwei Gruen-
den: Einerseits geht es einem dadurch besser und andererseits
ist man damit zudem leistungsfaehiger.

Bald jedoch kommt ein weiterer Schritt: Bestimmte Dinge kann
man nicht mehr tun, andere muss man jetzt tun fuer die Ge-
sundheit. Dann muss man zum Arzt und zur Kur - und alle diese
Unternehmungen rauben einem so viel Zeit, dass man zu den
wichtigen Dingen gar nicht mehr kommt. Man muss ja auch
nichts wirklich Wichtiges mehr tun, denn im Grossen und Gan-
zen ist man abgesichert und ob und was man jetzt tut, sind
doch beinahe nur noch Marginalien. Es geht um nichts mehr
wirklich. Es geht nicht mehr um Kopf und Kragen wie in der
Jugend, um grosses Glueck und himmelschreiendes Elend, son-
dern nur noch um matte Schattierungen von Pastelltoenen.

Eigentlich wuerde man ja noch einmal einen grossen Angriff
wagen, doch andererseits geht es einem doch viel zu gut da-
fuer. Warum also dir Aufregung. Langsam verstrickt man sich
immer mehr - und zwar sowohl in aeussere wie selbstgesetzte
Verordnungen, was man tun darf oder muss und was auf jeden
Fall zu unterlassen ist. Und das Ende der Tage verbringt man
dann damit, dass das Schreiben einer einzigen Postkarte zur
tagesfuellenden Beschaeftigung wird. Es ist ja auch sehr
muehsam und kompliziert, schliesslich muss man die Karte kau-
fen, sich auf der Post fuer die Briefmarke anstellen, die
Adresse heraussuchen, sich einen Text einfallen lassen und
dann auch noch zum Briefkasten gehen.

Irgendwann stirbt man - und neue, juengere Menschen ueberneh-
men das Zepter. Diese Tatsache ist das Einzige, denke ich,
was verhindert, dass das eben geschilderte Beispiel eine hun-
dertprozentige Uebereinstimmung mit der Entwicklung unseres
Landes aufweist.


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Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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