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Alt 30-04-2006, 10:52   #128
621Paul
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Die Finanzierung unseres Lebens

von Dr. Bernd Niquet

Fuer mich ist es ein grauenvoller Befund: Heutzutage kann man
nicht einmal mehr irgendwo auf die Toilette gehen, ohne dabei
von einem Grossunternehmen gesponsert zu sein. Nichts geht
heute mehr ohne den Zuspruch von oben. Musikbands werden von
Konzernen wiedervereint und finanziert, der Sport hat sich
vollends den Unternehmen unterworfen, Film und Fernsehen wer-
den von der Werbung ebenso dominiert wie die Stadtbilder.
Ohne das alles geht nichts mehr. Graffiti wird angeprangert,
Werbeplakate hingegen nicht. Und jetzt macht man nicht einmal
mehr vor dem Klo Halt. Koennen wir so etwas eigentlich wol-
len?

Nicht nur unsere Gesellschaft driftet immer staerker ausein-
ander, den einen geht es immer besser, die anderen hingegen
werden immer aermer. Auch unsere gesamte Oeffentlichkeit
spaltet sich entzwei. Auf der einen Seite werden die Dinge
staendig gigantischer, die Filme aufwaendiger, die Sportler
immer teurer, die oeffentliche Aufmerksamkeit groesser und
das Publikum zahlreicher - und auf der anderen Seite gibt es
stetig wachsende Nischen, in denen jeder alles machen und
sagen kann, in denen die Aufmerksamkeit jedoch aeusserst be-
grenzt ist.

Wir haben es also mit zwei sich eigentlich widersprechenden,
aber dennoch parallel laufenden Tendenzen zu tun: Hier eine
weitgreifende Gleichschaltung, dort eine unglaubliche Hetero-
genisierung. Auf der einen Seite wird uns eine immer giganti-
schere Einheitsglocke uebergestuelpt, andererseits waren die
Freiheiten und Chancen, etwas Eigenes zu machen, noch niemals
so gross wie heute.

Was ist nun der entscheidende Unterschied zwischen beiden
Entwicklungen? Bezogen auf den einzelnen Menschen ist die
eine aussengesteuert, die andere hingegen von innen gesteu-
ert. Der sich allem bemaechtigende oeffentliche Einheitsbrei
wird uns vorgesetzt, ob wir wollen oder nicht. Die Nischen
hingegen koennen und muessen wir uns selbst schaffen und ent-
decken. Um diesen Sachverhalt einmal zu verbildlichen, koenn-
te man sagen: Auf unserem Lebensweg fliegt uns taeglich zu-
nehmend lauter Mist um die Ohren. Es wird immer schwerer,
sich durch diesen Hoellensturm aus Irrelevantem, Billigem,
Imitiertem und Willkuerlichem durchzukaempfen und darueber
nicht zu vergessen, was man an wirklich Wertvollem in sich
traegt.

Beinahe alles, was uns in der Welt der grossen und breiten
Oeffentlichkeit um die Koepfe schwirrt, hat mit wirklichem
Wert nichts zu tun. Es sind Konsumprodukte, darauf getrimmt,
besonders gut und problemlos verbraucht zu werden. Ob wir sie
in den Mund nehmen, in die Nase pusten, in die Ohren schwin-
gen, in unser Wertpapierportfolio aufnehmen oder in den Hin-
tern stecken ist letztlich egal. Alle derartigen Produkte
sind nichts anders als eben Produkte. Bezeichnenderweise
kommt das Wort "Produkt" vom lateinischen "producere = vor-
fuehren"; das Produkt ist also das Vorgefuehrte, die Vorfueh-
rung. Es ist zeitgemaess, sonst wuerde es sich nicht verkau-
fen, und es ist deshalb stets dem Verfall ausgesetzt. Und
manchmal muss man sich in der Tat fragen, wer denn hier nun
vorgefuehrt wird, das Produkt oder der Konsument und der In-
vestor.

Heute laufen die Aktien, gestern die Bonds und morgen die
Zertifikate. Alles in Gang gesetzt von einer riesigen Werbe-
maschine. Bezahlt wird mit Papiergeld, doch die Aktien, Bonds
und Zertifikate gibt es nicht einmal auf Papier. Wer mit-
macht, der wird reich. Doch kann er seinen Reichtum ueber die
Zeit sichern? Zweifel sind sicherlich angebracht und gehoeren
zum System. Doch nicht nur die Zweifel, auch die temporaeren
Entwertungen gehoeren zum System. Der Ballon bleibt nur im
Gleichgewicht, wenn er ab zu einmal Luft ablaesst. Vielleicht
sollte man dem allen doch etwas Zeitloses, Echtes und
Bestaendiges entgegen setzen. Auch wenn damit die Sinkge-
schwindigkeit sukzessive zunimmt.


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Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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