Einzelnen Beitrag anzeigen
Alt 23-04-2006, 11:01   #127
621Paul
TBB Family
 
Benutzerbild von 621Paul
 
Registriert seit: Jan 2004
Ort: Bayern
Beiträge: 10.026
Berlusconi-oder: Woher der nächste Diktator ?

von Dr. Bernd Niquet

Ueber das Osterfest habe ich einen bemerkenswerten Aufsatz
von Jan Henrik Stahlberg gelesen, der gerade seinen neuen
Film "Bye, bye, Berlusconi" herausgebracht hat. (Quelle: Die
Welt, 15.4.2006). Was waere, so fragt Stahlberg, wenn Berlus-
coni nur ein Vorreiter einer generellen Entwicklung waere?
Natuerlich ist ein Mann wie Berlusconi, vergleicht man
Deutschland und Italien, wohl nur in Italien und nicht bei
uns moeglich. Doch das Prinzip besitzt auch bei uns Gueltig-
keit.

Worum geht es beim "Prinzip Berlusconi"? Die etablierte Poli-
tik hat ihre Handlungsfaehigkeit und vor allem ihre Glaub-
wuerdigkeit verloren. Niemand vertraut mehr darauf, dass die
Politik unsere Probleme loesen und das Auseinanderdriften
unserer Gesellschaften verhindern kann. Die Menschen haben
den Eindruck, alles bleibe im Dickicht des Parteidenkens ste-
cken. Nichts geht mehr.

Und dann, so Stahlberg, kommt ploetzlich einer daher, der
sagt: Schluss damit! Jemand, der selbst kein Politiker ist,
sondern jemand, der sich von ganz unten nach ganz oben hoch-
gearbeitet hat, es also bewiesen hat, dass so etwas geht.
Jemand, der sich nicht beschneiden laesst und sich nicht ein-
flechtet in den politischen Proporz, sondern der genauso die
Schnauze voll hat wie der Buerger selbst.

Und selbst wenn er irgendwo Dreck am Stecken hat: Ist er
nicht dennoch viel glaubwuerdiger als die Sesselfurzer, Be-
denkentraeger und Selbstbereicherer in der Politik? Und was,
wenn er sogar keinen Dreck am Stecken hat? Wenn er vollkommen
untadelig ist?

Hier nun beginnt das Gedankenexperiment. Und ploetzlich sind
wir in Deutschland. Stahlberg weist darauf hin, dass un-
laengst der Fernsehmoderator Guenther Jauch in einer "Volks-
umfrage" zum "liebsten Bundeskanzler" gekuert worden ist -
und schreibt: "Und was waere, wenn dieser Kandidat, der also
ganz anders waere als Berlusconi, aber eben neu und unver-
braucht, wenn er versprechen wuerde mit diesem ganzen politi-
schen Filz aufzuraeumen? Wenn er vorgeben wuerde, endlich
auch dem kleinen Mann die Fesseln zu lockern? ... Was waere,
wenn da ein unglaublich erfolgreicher Mann sagen wuerde, er
ginge in die Politik, um den Karren aus dem Dreck zu ziehen?
Und was waere, wenn dieser Mann dann auch noch den Medien
genehm waere?"

Ich denke, man kann gegenwaertig wohl kaum relevantere Fragen
stellen. Wer jetzt allerdings versucht, noch weiter zu den-
ken, begibt sich auf eine extreme Gratwanderung. Ein zerfal-
lendes System laesst sich sicherlich nicht von innen, sondern
nur von aussen reformieren. Das Nervendste unserer aktuellen
Gegenwart ist das andauernde Hick-Hack, der ewige Streit zwi-
schen ewig gleichen Protagonisten, der entweder nie aufhoert
oder aber in einem faulen Kompromiss fuer alle Seiten endet.
Doch wie saehe dagegen eine darueber stehende Vernunft aus?
Und vor allem: Was passiert mit denjenigen, die eben nicht
der Meinung sind, dass das, was die Mehrheit fuer vernuenftig
haelt, vernuenftig ist?

Je weiter man vordringt, desto groesser werden also die Fra-
gen. Das Stellen der richtigen Fragen bringt keine Antworten,
sondern nur noch weitere Fragen. Doch die Menschen wollen
Antworten. Wahrscheinlich ist dieser Themenkreis daher fuer
unsere Zukunft wichtiger als die Demografie, die Rente, die
Krankenkassen, der Iran und vielleicht sogar als die Roh-
stoffpreise.


++++++

Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
__________________
Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
621Paul ist offline   Mit Zitat antworten