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Alt 29-01-2006, 09:27   #121
621Paul
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Wenn alle die Dinge gleich sehen

von Dr. Bernd Niquet

Gerade komme ich zurueck von der Internationalen Kapital-
anleger-Tagung des ZfU in Zuerich - und mir schwirrt noch der
Kopf. Zwei Tage ein konzentriertes Programm. Und immer wieder
die selben Dinge. Nur jedes Mal aus einer anderen Sichtweise.

Auch in diesem Jahr sind mir einige ganz besondere Dinge auf-
gefallen. Erstens: Fast alle Referenten, von den notorischen
Optimisten wie Kenneth Rogoff bis hin zu den ewigen Skepti-
kern wie Marc Faber, teilen im Grunde genommen ein identi-
sches Weltbild. Unterschiedlicher Meinung ist man nur in der
Gewichtung der einzelnen Faktoren. Zweitens: Niemand hat auch
nur einmal das Wort "Crash" in dem Mund genommen. Drittens:
Alle vertreten eine falsche Geldtheorie. Und viertens: Der
Trend weiter steigender Rohstoff- und Edelmetallpreise ist so
deutlich, dass er an Deutlichkeit nicht mehr zu uebertreffen
ist. Wenn an den Boersen jemals "geklingelt" worden ist, dann
klingelt es jetzt. Dass die Rohstoff- und Edelmetallpreise
(bei aller Volatilitaet) im Trend weiter steigen werden, ja
steigen muessen, ist so eindeutig, dass fast kein Zweifel
moeglich ist. Bleibt alleine die Frage, ob so etwas eigent-
lich moeglich ist.

China wird weiter wachsen, Indien wird weiter wachsen, alle
Emerging Maerkte werden weiter wachsen. Das wird aufgrund der
riesigen Anzahl der Menschen, um die es hierbei geht, die
Rohstoffpreise ansteigen lassen. Betrachtet man die Welt als
Ganzes, dann geht die Industrialisierung eigentlich erst
jetzt richtig los. Was bisher in den bisherigen Industrie-
staaten passiert ist, ist nur ein regionales und zumindest
selektives Phaenomen. An einem weiteren und langfristigen
Anstieg der Rohstoffpreise fuehrt damit kein Weg vorbei.
Keiner!

Die Loehne in China und Indien betragen nur etwa zwei (!) bis
drei (!) Prozent des Lohnniveaus der Industrielaender. Es
gibt daher keinen Mechanismus, die Verlagerung der Produktion
zu stoppen. Selbst wenn China seine Waehrung um 100 Prozent
aufwerten wuerde, waere das nicht mehr als ein Tropfen auf
den heissen Stein. Von Lohnzurueckhaltung unsererseits ganz
zu schweigen. Spiegelbildlich zu der hohen Produktion und dem
vergleichsweise geringen Konsum in den aufstrebenden Laendern
steht der hohe Konsum und die geringe Produktion in den USA.
Daraus ergeben sich Ungleichgewichte, die nach Anpassung ver-
langen.

Der Konsens der Meinungen sieht diese Anpassung als langsamen
Prozess, von riesigen Verwerfungen bis hin zu einem Crash
spricht hingegen niemand mehr. Wirklich niemand. Das macht
mich natuerlich etwas besorgt. Denn wenn niemand vom Crash
spricht, dann ist es durchaus eine gefaehrliche Situation,
die durch den ueberbordenden Optimismus an allen Assetmaerk-
ten ebenfalls widergespiegelt wird. Die pessimistischste
Meinungen, die ich gehoert habe, kam von Ralph Acampora und
lautete, dass die Aktien im Jahr 2006 um etwa 20 Prozent kor-
rigieren koennten, dann aber wieder eine treffende Chance
fuer die naechsten Jahre boeten. Doch so etwas ist wohl kaum
pessimistisch zu nennen.

Hintergrund dieser Denkweise ist bei allen Marktteilnehmern
die These von der "vagabundierenden Ueberschussliquiditaet",
die ueberall hinstroeme, die Kurse treibe und von niemandem
mehr recht eingefangen werden koenne. Wer meine Kolumnen re-
gelmaessig liest, weiss, dass das Unsinn ist. Es gibt keine
Ueberschussliquiditaet. Es gibt nur einen Ueberoptimismus.
Hier koennte also eine zweite Achillesferse der Marktein-
schaetzung zu finden sein.

Was also tun? Ich plaediere dafuer, in die steigenden Aktien-
kurse die Aktienbestaende etwas abzubauen und vom Gegenwert
den einen Teil sofort in Rohstoffen (nicht aber Rohstoff-
aktien) anzulegen und den zweiten Teil zu parken, um auf eine
Korrektur der Commodities zu warten, um dann noch staerker
dort zu investieren.

Auf Sicht von fuenf bis zehn Jahren muesste sich das gut
rechnen. Man darf zwischendrin aber nicht zittrig werden und
sich durch heftige Preisschwankungen abschuetteln lassen. Es
scheint mir an dieser Stelle durchaus angebracht, wieder das
alte Kostolany-Beispiel auszugraben und es auf die heutige
Zeit umzuwandeln: Rohstoffe kaufen (Endloszertifikate), in
die Apotheke gehen, Schlafmittel nehmen, nach fuenf bis zehn
Jahren schliesslich aufwachen und sich freuen.



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Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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