Die amerikanische Versuchung
von Dr. Bernd Niquet
Am Montag vor einer Woche, abends um zehn Minuten nach sechs,
hat sie mich erwischt, die amerikanische Versuchung. Ich
weiss, dass die meisten Menschen schon weit frueher in den
Bann gezogen wurden, ja dass nicht nur ein ganzer Kontinent
von nichts anderem lebt als von der amerikanischen Versu-
chung. Doch mich hat es eben - wie eigentlich immer - erst
sehr spaet erwischt. Und dann - ebenso wie eigentlich immer -
in einem ganz anderen Bereich als bei den meisten.
Ich sass zu diesem Zeitpunkt gerade in einem grossen Steak-
House und wollte eigentlich ein Bier trinken. Doch diese
gaengigen Industriebiere sind mir so zuwider, dass ich
ploetzlich Appetit auf Wein bekam. Ich fragte, welcher Rot-
wein denn am kraeftigsten sei und bekam einen Cabernet-
Sauvignon aus Chile. Was dann folgte, war eine Offenbarung.
Ich habe schon viele sehr teure Rotweine getrunken und bin
ein halbes Leben lang dem Brombeergeschmack im Wein nachge-
jagt. Irgendwie verrueckt fand ich das schon immer. Da kauft
man fuer sehr viel Geld Rotwein, um sich dann am Aroma von
etwas ganz anderen zu ergoetzen, was man in Reinform sehr
viel guenstiger erstehen koennte. Aber trotzdem, dass so
etwas in einem natuerlich Gaerprozess entsteht, macht es zu
etwas ganz Besonderem und ist gleichsam ein Weltwunder im
kleinen Massstab.
Ich bekomme also den offenen chilenischen Rotwein fuer fuenf
Euro noch etwas das Glas. Schoen dunkel in der Farbe. Ich
setze an und erlebe ploetzlich einen so intensiven Geschmack
nach Brombeere und Heidelbeere wie er sich selbst im Chateau
Petrus nicht findet. Wie kann das sein? In einem vergleichs-
weise billigen Wein so eine Delikatesse? Das waere so, als
wuerde man das Steak anschneiden und merken, dass unter einer
duennen Fleischschicht sich reines Gold verbirgt. Es muessen
also Alchemisten am Werk sein.
Und sofort erinnere ich mich. Da war das vor kurzem etwas,
dass naemlich die EG ab sofort Wein aus den USA importieren
muss, dessen Gaerungsprozess kuenstlich gestaltet werden
darf. Man darf dort Aromen zusetzen und Enzyme, also den
Geschmack durch einen Eingriff von aussen beeinflussen. Und
dieser chilenische Wein muss die Vorhut bilden, da bin ich
mir ganz sicher. War ich jedoch vorher noch sehr skeptisch
gestimmt bezueglich dem, was uns die Amerikaner da wieder vor
die Nase setzen, bin ich seit dem Verkosten dieses Weines
jedoch voellig anderer Meinung.
Jetzt denke ich: Warum uns alles schwerer machen als unbe-
dingt noetig? Warum den Gipfel des Geschmacks nur wenigen
Reichen zubilligen? Und warum nicht der breiten Masse mit
weniger Geld auch? Vielleicht gelingt es bald ja sogar, die
Gaensestopfleber naturidentisch herzustellen. Wie viel Leid
koennte man damit aus der Welt schaffen. Ich habe jedenfalls
erst einmal beherzt zugegriffen, vom Angebot des Steak-Houses
Gebrauch gemacht und mehrere Flaschen dieses koestlichen
Weines fuer 16 Euro pro zwei Flaschen mitgenommen. Und jetzt
ueberlege ich, ob ich nicht auch ansonsten etwas von den Ame-
rikanern lernen kann, gegen das ich mich bisher immer gewehrt
habe?
Zum Beispiel, mir einfach nicht mehr so viele Gedanken zu
machen. Lieber an das Heute als an das Morgen zu denken.
Schlichtweg nicht mehr immer das Geld zurueckzulegen, sondern
einfach viel mehr zu konsumieren. Mir auch ein Haus zu kau-
fen, es bis zum Dach mit Schulden zu beleihen und den Gegen-
wert bedingungslos zu verknallen. Denn was kostet die Welt?
Morgen kann doch schon alles aus sein.
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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