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Alt 19-01-2006, 20:33   #401
Starlight
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"Truthiness"

Das Börsenjahr hatte so gut begonnen. Doch schon nach den ersten zwei Januar-Wochen ist die Stimmung im Eimer. Die Ertragssaison hat bislang nicht gebracht, was sich viele Anleger erhofft hatten. Im Gegenteil: Nackte Zahlen deuten darauf hin, dass die Börse in den letzten Wochen viel zu optimistisch gehandelt hat.

Zur Erinnerung: Der Aluminium-Riese Alcoa hatte als erstes Dow-Unternehmen Quartalszahlen gemeldet – und verfehlt. Am gleichen Tag warnten der Kupferhersteller Phelbs Dodge und der Industrie-Multi United Technologies. Nun haben auch die ersten Hightech-Werte enttäuscht: Intel und Yahoo meldeten schwächer als erwartet, bei IBM, eBay und sogar bei Apple enttäuschten die Aussichten.

Überraschend ist das alles nicht, außer für die Berufs-Optimisten an der Wall Street, die sich schon seit Monaten immer mehr ihrer ganz eigenen „Truthiness“ hingegeben haben.

„Truthiness“ ist in Amerika zum Wort des Jahres gewählt worden. Es ist ein Phantasiewort des Politsatirikers Stephen Colbert, der auf Comedy Central eine tägliche Late-Night-Show hat. Colbert definiert „Truthiness“ als eine Wahrheit, die auf subjektivem Empfinden und Wunschvorstellungen beruht. Damit ist „Truthiness“ eine gewagte Erweiterung der traditionellen Wahrheit, die auf Fakten beruht. Oder deren genaues Gegenteil.

Colbert prägte den Begriff natürlich mit Blick auf den amerikanischen Präsidenten. So gehört zu George W. Bushs „Truthiness“, dass Saddam Hussein irgendwie hinter den Terroranschlägen des 11. September 2001 steckte. Und dass seine Massenvernichtungswaffen eine Gefahr für die USA und den Rest der Welt darstellten. Und dass amerikanische Soldaten im Irak nach wie vor als Friedensbringer willkommen sind. Und dass ein globaler Klimawandel nicht existiert oder jedenfalls nichts mit Umweltverschmutzung durch Autos und Industrie zu tun hat.

Die „Truthiness“ an der Wall Street sieht ähnlich aus: Berufs-Optimisten wissen mit hundertprozentiger Sicherheit, dass der Arbeitsmarkt gar nicht schwach ist. Und dass der Immobilienmarkt nicht einbrechen wird. Und dass vor allem auf den Verbraucher auch in 2006 Verlass sein wird.

In diesen Tagen muss mancher darüber noch einmal nachdenken. Denn die Vorhersagen der Unternehmen stimmen mit der bisher vorherrschenden Meinung nicht überein. Warum fürchtet Apple, im laufenden Quartal weniger iPods zu verkaufen als erwartet? Weil der Verbraucher unter seiner Schuldenlast zusammenbricht und neue Hightech-Gadgets irgendwann nicht mehr erschwinglich findet. Auch der gelegentliche Einkaufsbummel bei eBay wird hin und wieder abgesagt werden. Unternehmen indes werden nicht so schnell und in so großen Stil ihre IT-Investitionen herauffahren, wie Chiphersteller und Netzwerker zu verstehen geben.

Angesichts der fundamentalen Aussichten für die US-Konjunktur hätte die Wall Street in den letzten Monaten nie und nimmer auf 11 000 Punkte klettern dürfen. Der unumstößliche Glaube der Anleger an ihre eigene Wahrheit hat Aktien dahin getrieben. Während jetzt immer mehr Zahlen gemeldet werden, wird es wieder abwärts gehen. Nicht jeden Tag, versteht sich. Denn die Masse macht den Markt. Und „Truthiness“ ist nicht zuletzt deshalb Wort des Jahres geworden, weil sich das Konzept immer mehr durchsetzt – in Washington und an der Wall Street.

Markus Koch © Wall Street Correspondents Inc
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