Der metaphysische Status des Weihnachtsmannes
von Dr. Bernd Niquet
Meine Guete, was bin ich in den letzten Tagen oft in die
Bredouille geraten. "Papa, wenn man den Weihnachtsmann so-
wieso nicht sehen kann, warum muss ich denn dann in mein
Zimmer, wenn er kommt?" fragt meine Tochter. Und in dieser
Art ging es die ganzen Tage vor Weihnachten. Stuendlich stand
meine ganze Philosophie kurz vor dem Zusammenstuerzen.
Aber was soll man auch machen? Es ist ja durchaus nicht ein-
fach. Und in der Schule lernt man zwar Latein und viele
schlaue Dinge, doch ueber Theorie und Alltag gibt es gar
nichts. Vielleicht ist das auch der Grund dafuer, warum so
viele Boersianer an den Maerkten Schiffbruch erleiden. In der
Schule nichts gelernt und nicht mal mit dem Weihnachtsmann
richtig beschaeftigt - dann kann das alles eben auch nichts
werden.
Die meisten Menschen denken, die Dinge waeren so, wie sie sie
sehen. Der Irrtum koennte jedoch nicht groesser sein. Nehmen
wir zuerst den Weihnachtsmann und hinterher die Boerse. Das
Wichtigste ist stets, dass eine Theorie in sich widerspruchs-
frei ist. Ob Theorien richtig sind, das merken wir immer erst
durch langjaehrige Erfahrungen. Wobei "richtig" natuerlich
immer nur "vorlaeufig richtig" heisst, also "bisher gut
bestaetigt". Was morgen ist, das kann man nie genau wissen.
Falsche Theorien kann man hingegen stets an den inneren
Widerspruechen erkennen. Und viel mehr, so fuerchte ich, kann
man sowieso nicht tun. Deswegen schreibe ich ja auch meisten
ueber Unsinn und selten ueber Sinn. Weil der Unsinn immer
klar fassbar ist, der Sinn hingegen stets ein weites Feld.
Nun also zum Weihnachtsmann: Dass alle Gestalten, die wir in
den vergangenen Wochen mit weissem Bart und rotem Mantel ge-
sehen haben, der Weihnachtsmann sind, ist voellig unhaltbar.
Erst sehen wir einen Weihnachtsmann, dann biegen wir um die
Ecke und sehen noch einen. Jetzt muessen wir aufmerken und
schliessen: Das geht nicht! Wenn es tatsaechlich einen Weih-
nachtsmann gibt, dann kann es nur einen einzigen geben.
Schliesslich haben wir den Wunschzettel an den (!) Weih-
nachtsmann geschrieben. Gaebe es hingegen viele, dann
wuessten wir gar nicht, an welchen wir uns nun wenden sollen.
So kommen wir also nicht weiter.
Der logisch zwingende Schluss lautet: Was wir hier gesehen
haben, waren nur verkleidete Maenner. Doch was ist dann mit
dem wirklichen Weihnachtsmann? Man kann es drehen und wenden,
wie man will, es bleibt nur eine Loesung: Entweder es gibt
gar keinen wirklichen und richtigen, echten Weihnachtsmann,
oder aber dieser Weihnachtsmann muss unsichtbar sein. Denn
nur dann ist sichergestellt, dass man ihm nicht an mehrere
Orten gleichzeitig begegnen kann. Eine Untertheorie der Per-
sonenverdoppelungen waeren in diesem Fall zwar denkbar,
wuerde die Theorie jedoch voellig unhandhabbar und beliebig
machen.
Eine Frage bleibt allerdings auch jetzt noch uebrig, und ge-
nau auf die ist meine Tochter natuerlich sofort wieder gekom-
men: "Papa, wenn der Weihnachtsmann unsichtbar ist, woher
wissen wir dann, dass er einen weissen Bart und einem roten
Mantel traegt?" An dieser Stelle war ich mit meinem Latein
tatsaechlich am Ende. Konsequenterweise haette ich jetzt die
Jesusgeschichte adaptieren und erzaehlen koennen, dass sich
der Weihnachtsmann frueher einmal eben doch einem ausgewaehl-
ten Kreis von Juengern offenbart hat. Aber meine Tochter ist
erst fuenf, und ich will sie nicht uebermaessig verwirren.
Deswegen freue ich mich schon sehr auf die Zeit, in der sie
schon groesser sein wird. Dann kann ich ihr naemlich ganz
frank und frei sagen: "Eigentlich ist es hier genauso wie an
der Boerse: Da denkt auch jeder das Gleiche und niemand
schert sich nur ein Deut darum, woher dieses Wissen stammt
und ob es auch nur in Ansaetzen folgerichtig ist."
"Und?" wird sie dann zurueck fragen, "bekommen die Leute an
der Boerse deshalb auch so schoene Geschenke wie die Kinder?"
"Eben nicht!" werde ich antworten. "Eben nicht! Ausser in
manchen Jahren. Da rinnt es selbst dem Esel vor der Krippe
direkt von der Nase in den Mund."
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Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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