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Alt 18-12-2005, 11:27   #112
621Paul
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Eine erstaunliche Tatsache

Von Dr. Bernd Niquet

Das groesste Wunder an den weltweiten Finanzmaerkten ist es,
dass sich zu jedem Zeitpunkt Optimismus und Pessimismus immer
wieder ausgleichen. Denn kaufen wird stets nur derjenige, der
optimistisch ist, wohingegen derjenige, der verkauft, pessi-
mistisch gestimmt oder eben einer anderen Notwendigkeit un-
terlegen sein muss.

Warum ist das so erstaunlich? Weil die Daten, die den Akteu-
ren zugaengig sind, sich fuer alle Marktteilnehmer voellig
identisch darstellen. In frueheren Zeiten gab es sicherlich
einmal ein "Geheimwissen", also interne Informationen ueber
Tatsachen und Funktionsweisen hinsichtlich der Boerse, die
nur wenigen bekannt waren. Doch heute, im Zuge der Informa-
tionsgesellschaft, mit staendig laufenden Boersensendungen im
Fernsehen sowie dem Internet gibt es so etwas nicht mehr.

Das heisst: Alle Akteure an den Maerkten verfuegen ueber
prinzipiell identische Daten oder Inputs - und leiten daraus
dennoch diametral entgegengesetzte Szenarien ab. Etwas
Erstaunlicheres gibt es eigentlich in unserer sozialen Welt
nicht. Wie kommt es nun dazu?

Die Antwort ist genauso klar wie (fuer viele) sicherlich er-
schreckend und schockierend. Sie ergibt sich zudem mit logi-
scher Zwangslaeufigkeit. Das, was wir fuer Aussagen ueber die
Welt halten, sind letztlich jedoch fast ausschliesslich Aus-
sagen ueber uns selbst, das heisst ueber denjenigen, der sie
trifft.

Ich schreibe bewusst "fast", da natuerlich viele Einschaet-
zungen der Marktteilnehmer Reaktionen auf Preisveraenderungen
der Vergangenheit und damit doch Aussagen "ueber die Welt"
sind. Wer fuer eine Aktie bei 80 optimistisch ist, kann na-
tuerlich bei 120 zum Pessimisten werden. Derartige Entschei-
dungen haben also weniger mit dem Entscheider als mit dem Ge-
schehen an den Maerkten selbst zu tun.

Wichtiger als derartige spezielle und marktbezogene Ein-
schaetzungen ist fuer mich jedoch die Grundhaltung, die fuer
jeden Boersianer und Finanzmarktteilnehmer charakteristisch
ist. Ich moechte hier zwischen "normalen" und "extremen"
Grundhaltungen unterscheiden. Fuer normal halte ich diejeni-
gen, die variabel sind, die zwischen Optimismus und Pessimis-
mus hin- und herpendeln. Ganz so wie die Launen im normalen
Leben. Da ist man manchmal froehlich und manchmal betruebt,
manchmal optimistisch und manchmal eher skeptisch gestimmt,
hat Hoffnungen und Aengste, die sich wechselseitig ueberla-
gern.

Diesen "normalen" Grundhaltungen stehen die "extremen" gegen-
ueber, in denen Akteure dauerhaft ein Szenario verkuenden.
Wir kennen sie alle, im normalen Leben wie an der Boerse, die
zwanghaften Optimisten und die ewigen Miesepeter und Mis-
anthropen, die an allem immer nur das Schlechte sehen. Zwang-
hafter Optimismus scheint mir in vieler Hinsicht ein Wunsch-
denken zu sein, doch ich finde ihn weder theoretisch noch
empirisch sehr interessant. Viel ergiebiger und nutzbringen-
der ist mir dagegen die Beschaeftigung mit den Propheten des
Untergangs. Denn die Ansteckung mit dem Pessimismus scheint
mir sehr viel schwerwiegender und folgenreicher zu sein als
der umgekehrte Fall.

Warum also sind einige oder viele Marktteilnehmer dauerhaft
so pessimistisch? Warum sehen diese Menschen mit zwanghafter
Notwendigkeit das Ende der Prosperitaet und den Untergang auf
uns zukommen? Eine Sache ist bereits zu diesem Zeitpunkt
klar: Es ist stets ein persoenliches (!) Problem, welches
dahinter steht. Und kein Problem der Welt an sich. Es sind
nicht die Fakten, die beunruhigen, sondern die Meinungen, die
von diesen Fakten existieren. Doch wie genau funktioniert
hier die Uebertragung beziehungsweise die Rueckfuehrung von
Einschaetzungen auf Personen, die sie treffen. Konkret: Warum
(!) sind manche Menschen so pessimistisch?

Da ich zu dieser Ableitung weit mehr Platz benoetige, vertage
ich mich auf die naechste Woche damit. Das ist doch auch ein
wunderbar weihnachtlich-besinnliches Thema, denke ich, wenn
diese Kolumne dann kurz vor Heiligabend oder ueber die Weih-
nachtstage kommt. Bis dahin wuensche ich - gleichsam als
"Vorbereitung" - noch eine gesegnete Adventszeit!


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Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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