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Alt 15-12-2005, 17:46   #384
Starlight
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Ein Streik könnte New York lahm legen

Wer an der Wall Street wirklich wichtig ist, kommt am Freitag in einen besonderen Genuss: Siebzehn Firmen – darunter die New York Stock Exchange und die wichtigsten Brokerhäuser – haben eine Flotte von Privatbussen angeheuert, die Mitarbeiter zu Hause abholen und zur Arbeit bringen. Anders geht es vielleicht auch nicht, denn ein Streik im öffentlichen Nahverkehr könnte die Metropole zum Wochenende lahm legen.

New York bereitet sich auf ein Horror-Szenario vor. Wenn die 33 700 Mitarbeiter in U-Bahnen und Bussen tatsächlich die Arbeit niederlegen, fehlen der 8-Millionen-Stadt die wichtigsten Verkehrsmittel. Während sich manche New Yorker trotz eines angekündigten Schneesturms notfalls zu Fuß zur Arbeit durchschlagen könnten, ist unklar, wie rund eine Million Pendler nach Manhattan kommen sollen, die täglich in den Stadtteilen Brooklyn und Queens und in den Vororten auf Long Island in die Bahn steigen.

Der wirtschaftlich versierte New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg nennt erschreckende Zahlen: Der Streik der Nahverkehrs-Arbeiter würde der Stadt einen Schaden von etwa 400 Millionen Dollar pro Tag zufügen. Der größte Teil des Schadens entstünde in der Tourismusbranche und den Restaurants, eingerechnet sind aber auch Produktivitätseinbußen in Corporate New York. Zudem entgingen der Stadt während eines Streiks 22 Millionen Dollar Steuern pro Tag.

Entsprechend drastisch sind die Maßnahmen, die New York City im Falle eines Streikes ergreifen will. Laut einem staatlichen Gesetz ist es den strategisch wichtigen Mitarbeitern der U-Bahnen und Busse nicht erlaubt zu streiken. Tun sie es doch, droht jedem streikenden Arbeiter eine Buße von 25 000 Dollar. Die Gewerkschaft TWU muss sich auf ein Strafgeld von 1 Million Dollar am ersten Streiktag gefasst machen, dass sich dann täglich verdoppeln wird.

Bisher hat sich die Gewerkschaft indes nicht einschüchtern lassen. Um Mitternacht läuft der Vertrag der Mitarbeiter aus, bis zur letzten Minute wird um die Details des nächsten Abkommens gefeilscht. Die Gewerkschaft fordert einen Drei-Jahres-Vertrag mit einer jährlichen Lohnerhöhung um 8 Prozent. Der Arbeitgeber MTA bietet einen Zwei-Jahres-Vertrag mit Lohnerhöhungen um jeweils 3 Prozent. Außerdem will man das Rentenalter von zur Zeit 55 Jahren auf 63 Jahre heraufsetzen, was den Arbeitern nicht passt.

Die Sympathien der New Yorker fallen überraschenderweise den Arbeitern zu, obwohl viele wie schon beim letzten Verkehrsstreik vor 25 Jahren viele eine mögliche Gehaltserhöhung mit einer Tariferhöhung gleichsetzen. Diesmal aber findet eine Mehrheit, dass die MTA ihren unerwartet hohen Jahresgewinn von 1 Milliarde Dollar zumindest zum Teil auch auf die Mitarbeiter umlegen sollte. Die MTA hält dagegen, dass der hohe Gewinn mit dem rasant steigenden Immobilienmarkt zu tun habe und einmalig sei. In den nächsten Jahren sei mit Defiziten zu rechnen, denen man vorbeugen will. Da passt nicht ganz ins Bild, dass man ganze 100 Millionen Dollar bereitstellt, um den New Yorkern über Weihnachten freie Fahrten zu schenken.

Darauf würde mancher sicher gerne verzichten, fiele nur der drohende Streik am Freitag aus. New York hofft auf eine Einigung der zerstrittenen Parteien und bereitet sich unterdessen auf einen Notfall-Plan von Bürgermeister Bloomberg vor. Danach werden zahlreiche zentrale Straßen in Manhattan für den Privatverkehr komplett gesperrt, unter anderem um private Pendlerbusse sowie Feuerwehr und Krankenwagen ein Durchkommen in der ansonsten wohl völlig verstopften Stadt zu sichern. In die Stadt reinlassen will Bloomberg am Freitag nur Autos, in denen mindestens vier Leute sitzen – der New Yorker Durchschnitt liegt sonst nur knapp über einer Person pro Auto.

Das wiederum ist schon aus ökonomischer und ökologischer Sicht zu verurteilen. So bleibt zu hoffen, dass die New Yorker im Falle eines Streikes aus der Not eine Tugend machen und auch künftig mehr auf Fahrgemeinschaften setzen. Oder auf Tele-Commuting. Vor dem drohenden Streik bitten viele Firmen ihre Mitarbeiter, von zu Hause aus per Internet zu arbeiten. Auch das ließe sich in normalen Zeiten durchsetzen – New York könnte davon langfristig profitieren.

Markus Koch © Wall Street Correspondents Inc.
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