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Alt 11-12-2005, 09:12   #111
621Paul
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Ein Spiegel der Gesellschaft

Von Dr. Bernd Niquet

Jetzt ist es nicht mehr lange hin und der Profi-Fussball in
unserem Lande macht eine Pause. Es ist den Jungs ja auch kaum
zuzumuten, bei diesen kalten und winterlichen Temperaturen
anderthalb Stunden in der Woche draussen zu arbeiten. Diese
unglaubliche Belastung, da muss man wirklich Erleichterung
schaffen. Ansonsten holen sich noch alle eine Lungenentzuen-
dung. Und damit ist tatsaechlich keinem geholfen - gerade vor
dem Hintergrund der im naechsten Jahr in unserem Land statt-
findenden Fussball-Weltmeisterschaft.

Und je mehr ich ueber den Fussball nachdenke, mir mehrmals
woechentlich die Spiele anschaue, umso ueberzeugter bin ich
der Meinung, hier ein exaktes Spiegelbild unserer Gesell-
schaft anzutreffen. Das beginnt damit, dass beim Fussball
ebenso wie in der Gesellschaft alles deutlich auseinander
strebt. In den sechziger und siebziger Jahren haben die guten
Fussballer vielleicht das Doppelte, Dreifache oder Vierfache
eines qualifizierten Arbeitnehmers verdient, dafuer aber auch
bestimmt das Doppelte geleistet. Heute hingegen verdienen sie
das Hundertfache - bei deutlich ruecklaeufigem Einsatz. Ich
werde das gleich naeher erlaeutern.

Die Fussballer gleichen darin den Unternehmensfuehrern, von
denen man durchaus Aehnliches sagen kann. Die Verguetungen
sind schlichtweg in den Himmel gewachsen, wobei die Leistun-
gen hier schlecht vergleichbar sind. Auf jeden Fall haben sie
sich nicht verhundertfacht, sicher nicht einmal verdoppelt.
Denn was hiesse das fuer die Unternehmensfuehrer der Vergan-
genheit?!

Die Arbeitnehmer muessen also auch bei Schnee und Eis zur Ar-
beit fahren, die Herren Fussballer hingegen machen Pause.
Auch hier haben wir es mit einem der beruehmten deutschen
Sonderwege zu tun, denn in anderen Laendern stellt sich das
alles voellig anders dar. In England beispielsweise beginnt
ueber Weihnachten und Neujahr die Saison ueberhaupt erst
richtig. Und merkwuerdigerweise bricht dort niemand zusammen.

Es hat sich jedoch im Fussball wie in der Wirtschaft und der
Gesellschaft enorm viel veraendert. Schauen Sie sich einmal
die Spieler nach einem Spiel an. Und vergleichen Sie dies mit
anderen Sportlern. Die Skilanglaeufer kippen vor Erschoepfung
im Ziel um, die Radfahrer fallen beinahe vom Rad. Und die
Fussballer? Sie werden kaum einen finden, der ueberhaupt
schwer atmet. Viele sind nicht einmal durchgeschwitzt. Das
war frueher anders. Doch woran liegt das? Ist es ausschliess-
lich mangelnder Einsatz?

Natuerlich hat es mit mangelndem Einsatz zu tun. Die Laufbe-
reitschaft der Millionarios ist nicht besonders gross. Dazu
muss man nur den Trainern genau lauschen. Jeder zweite klagt
ueber die mangelnde Laufbereitschaft seiner Mannschaft. Na-
tuerlich ist der Einsatz im Moment des Ballbesitzes weiterhin
hundertprozentig, vielleicht sogar noch intensiver als frue-
her. Gleiches gilt jedoch auch fuer den Charakterzug des Hin-
fallens. Da gleichen sich die Fussballer und die grossen
Lobbyisten voellig. Wenn es schwer wird, dann laesst man sich
im Strafraum des anderen einfach fallen, faengt an zu
schreien und zu wimmern.

Das Wichtigste scheint mir jedoch eine technische Veraende-
rung des Spiels zu sein, die voellig parallel zu den sonsti-
gen Dingen unseres Lebens verlaeuft. Die Taktik ist heute so
ausgepraegt und macht die vorhandenen Raeume so eng, dass gar
kein Platz zum Rennen mehr da ist. Gab es in den sechziger
Jahren noch andauernd ungestueme Angriffslaeufe, so ist heute
alles in Abseitsfallen und taktische Konzepte eingemauert.

Ganz wie in der Wirtschaft. Wer sich heute selbstaendig ma-
chen will, findet ebenfalls voellig andere und nur noch sehr
eingeschraenkte Moeglichkeiten wieder. Alles ist bis ins
Letzte reglementiert, der Freiraum minimal. Niemand kann
heute mehr einfach loslaufen. Und auch im sonstigen Leben
gilt das Gleiche: Frueher konnte man zwischen zwei Dingen
waehlen, der Rest war offen und frei, zum Selbstgestalten und
Loslaufen. Heute hingegen gibt es tausend Moeglichkeiten.
Doch alles ist bereits kanalisiert und festgezurrt.

Wer hier einfach loslaufen wuerde und Erfolg damit haette,
muesste ein Genie sein. Wahrscheinlich wird man ihn jedoch
eher als einen Irren bezeichnen. Und beim Fussball floege er
einfach aus der Mannschaft. Vielleicht ist die anstehende
Weihnachtspause daher doch gar keine so schlechte Idee. Viel-
leicht sollte die ganze Gesellschaft es dem Fussball einmal
nachmachen. Und einfach eine Pause einlegen. Zum Nachdenken.
Es wird doch so oft von der "besinnlichen Adventszeit" ge-
sprochen.

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Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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