Das Gerede bedrueckt, nicht die Fakten
Von Dr. Bernd Niquet
Es ist wieder einmal die Zeit des Bewunderns angebrochen. Ich
jedenfalls komme aus dem Staunen und Bewundern nicht mehr
hinaus, wie sicher die ganze Expertenschar in unserem Lande
hinsichtlich der steuerpolitischen Beschluesse der grossen
Koalition auftritt. Da wird mit einer Sicherheit verkuendet,
was gut und was schlecht ist, dass ich wirklich nur den Hut
ziehen kann. Ich habe fast den Eindruck, Hellsehern zuzuhoe-
ren.
Man kann auf Dauer nur ausgeben, was man einnimmt, sagen die
einen. Doch man darf in der Krise nicht konsolidieren, son-
dern muss die Ausgaben trotz Defizit steigern, sagen die an-
deren. Fakt ist sicherlich, alleine schon aus Gruenden der
Logik: Eine der beiden Seiten kann nur Recht haben. Doch wenn
dem so ist - und das wissen beide Seiten ja genau - wie kann
man dann die eigenen Urteile so apodiktisch vertreten als
handle es sich dabei um Naturgesetze?
Und vor allem: Was ist eigentlich, wenn es sich bei uns um
eine Dauerkrise handelt? Wer hat denn dann Recht?
Ich persoenlich tendiere eher der Fraktion zu, die die
Steuererhoehungen in der jetzigen Situation fuer falsch
haelt. Doch andererseits: Wenn wir jetzt nicht endlich
anfangen, das staatliche Budget zu konsolidieren, wann dann?
Es ist also stets ein Balanceakt - doch dieser Balanceakt
widerspricht sehr deutlich den apodiktisch vorgetragenen
Extremmeinungen der vielen Experten. Aber wahrscheinlich muss
man bei degenerierten Geschmacksnerven wirklich die Marmelade
zentimeterdick auftragen, um ueberhaupt noch etwas zu
schmecken.
Eine Mehrwertsteuererhoehung um drei Prozent entspricht bei
Annahme der voelligen Ueberwaelzung und konstanten Loehnen
einer realen Lohnsenkung um ebenfalls annaehernd drei Pro-
zent. Das wird also den Konsum schwaechen und die Wirtschaft
weiter in den Keller fuehren. So die eingaengige und logisch
leicht nachvollziehbare These der einen Seite. Doch ist das
wirklich so?
Meine eigenen Beobachtungen und kleinen Theorien sprechen
sehr dagegen. Ich glaube, dass eine Preiserhoehung um drei
Prozent von den Menschen ueberhaupt nicht bemerkt wird. Und
der Grund liegt darin, dass die Menschen ohnehin nicht auf
die Preise gucken. Bei teuren Anschaffungen sicherlich, doch
bei kleinen Dingen ueberhaupt nicht. Es sind jedoch die vie-
len kleinen Dinge, die das Grosse - sprich: die Konjunktur -
machen.
Mein Experimentum crucis ist stets die Weihnachtszeit. Hier
hat sich der Handel etwas Geniales ausgedacht: Weihnachts-
Suessigkeiten sind etwa doppelt bis drei Mal so teuer wie an-
dere und voellig identische Suessigkeiten. Sie werden an
Extra-Staenden platziert und es gibt ein rigoroses Preiskar-
tell. Laecherliche Schokoladenkugeln kosten 2,50 Euro fuer
100 Gramm. Das sind fuenf Mark. Doch die Leute kaufen und
kaufen. Und sie bemerken die Preise gar nicht, weil sie
ueberhaupt nicht draufschauen.
Beim "kleinen Mann auf der Strasse" holt sich der Staat al-
les, so heisst es ueberall. Besonders von denjenigen, die
alle Lasten anderen in die Schuhe schieben wollen. Was dabei
vergessen wird, ist, dass ueber 95 Prozent der Bevoelkerung
kleine Maenner sind. Selbst wenn sie Frauen sind.
Schaedlich scheint mir daher weniger die Mehrwertsteuer-
erhoehung (das fehlende Geld muesste man sich ansonsten
sowieso irgendwo anders besorgen) - als dieses andauernde
ganze Katastrophengerede darum. Die Mehrwertsteuererhoehung
werden wir alle ueberleben wie man einen Mueckenstich ueber-
lebt. Pro Haushalt macht das etwa 16 Euro im Durchschnitt pro
Monat aus. Doch wie lange wir die oeffentliche Miesmacherei
und Miesepeterei der ganzen Interessenverbaende noch ertragen
koennen, da bin ich nicht so optimistisch. Mich kostet das
gefuehlt jedenfalls deutlich mehr als 16 Euro im Monat.
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Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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