Paris spielen, Bruening spielen
Von Dr. Bernd Niquet
Das Leben kann wirklich ueberraschend sein. Immer wieder wird
uns haargenau prognostiziert, was in Zukunft passieren wird -
und dann kommt es doch alles voellig anders. Die Welt und die
Daten, die wir taeglich erhalten, sind eben so vielfaeltig,
dass sich jeweils verschiedene Szenarien mit der gleichen
Folgerichtigkeit ableiten lassen. Es ist also zwangslaeufig
so, dass einige es immer schon gewusst haben und andere eben
einfach im Regen stehen.
Wer beispielsweise - so wie ich - den Film "Hass" von 1995
gesehen und Buecher wie "Roissy-Express" gelesen hat, wird
sich ueber die Ereignisse in Paris derzeit nicht wundern. Es
musste ja so kommen. Die Zeichen standen seit langem an der
Wand. Andererseits: Wie viele Zeichen haben wir in den letz-
ten Jahren gesehen, die vielleicht noch viel deutlicher wa-
ren? Doch dann ist anschliessend nichts passiert.
Interessant finde ich die Rueckkopplungseffekte. Das ist fast
wie an den Boersen. Jetzt spielen Buergersoehnchen in Berlin
auch Paris. Ein Abenteuerspielplatz fuer die grosse Langewei-
le. Autos anzuenden. Was fuer ein Ereignis. Und alles viel
realer als im Fernsehen.
Die Politik faengt leider ebenfalls an zu spielen. Und das
Rollenspiel, das derzeit eingeuebt wird, traegt den furcht-
einfloessenden Namen "Bruening". Auch hier wieder die gleiche
Situation. Man kann zwei diametral entgegengesetzte Szenarien
mit der gleichen Folgerichtigkeit ableiten. Einerseits kann
man, wie Herr Koch von der CDU das getan hat, den Staat an-
hand einer Cash-Flow-Ueberlegung als nach privatwirtschaftli-
chen Kriterien Pleite bezeichnen und dadurch eine Mehrwert-
steuererhoehung durchbringen, um zu retten, was noch zu ret-
ten ist, um nur das Allerschlimmste, naemlich den Staats-
bankrott zu vermeiden.
Andererseits kann man jedoch zeitgleich - und mit der glei-
chen logischen Stimmigkeit - den Schuldenstand des Staates
mit dem Kapitalstock unseres Landes in Verbindung setzen,
dann kommt man auf Werte, die um Lichtjahre besser sind als
die jedes Unternehmens. Und damit eine deutliche Ausweitung
der staatlichen Defizite moeglich machen, um die aktuelle
Krise zu bekaempfen.
Und was nun? Nur eines ist sicher: Im Nachhinein wird eine
Seite es schon immer gewusst haben - und die andere ihre
Position eher zu verschweigen suchen. Was mir Sorge macht,
ist, dass sich durch die jetzt absehbaren Ergebnisse der
Koalitionsverhandlungen alle, aber auch alle Waehler ge-
taeuscht fuehlen werden. Die SPD Waehler werden erleben, dass
ihre Partei der Mehrwertsteuererhoehung, die sie so vehement
bekaempft hat, als Regierungspartei zustimmt. Und die CDU
Waehler werden erleben, dass alle Liberalisierungen und Steu-
ererleichterungen von der CDU als Regierungspartei ins Ab-
seits gekippt werden, ja sogar das Gegenteil davon realisiert
wird.
Indem man versucht, durch Konsens die Risse zu kitten, reisst
man moeglicherweise weit groessere Risse auf. Und derweil
wird oeffentlich ueberall gezuendelt und an Dolchstoessen
gebastelt. Wie schoen ist dagegen die gegenwaertige regie-
rungslose Zeit. Koennte sie nicht fuer immer andauern?
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Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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