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Alt 23-10-2005, 07:44   #105
621Paul
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Benutzerbild von 621Paul
 
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Die Frau mit der Eisenmaske

Von Dr. Bernd Niquet

Altweibersommer an der Ost-Ostsee. Seit Tagen nicht eine ein-
zige Wolke am Himmel. Seit Wochen kein Regen. Ein Wetter wie
es das nur ganz selten gibt. Doch wenn erst einmal wieder ein
paar Regentage da sind, werden die Menschen sich wieder ueber
das Wetter beschweren. Dann wird sich niemand mehr erinnern,
niemand mehr abwaegen, dann kommen die Urteile direkt aus den
aktuellen Wahrnehmungen der Sinne.

Das Hallenbad des Hotels ist aufgrund des guten Wetters ver-
gleichsweise leer. Das kleine Maedchen paddelt mit hochgebun-
denen Haaren und Schwimmfluegeln sowie Schwimmreifen durch
das Becken. Wen dieses Bild nicht ergreift, den ergreift nie-
mals mehr etwas. Die Frau mit der Brille durchschwimmt den
Pool nach einem vorgegebenen Rhythmus. Am vorderen Rand der
Laenge nach brustschwimmend, dann in der Mitte rueckenschwim-
mend zurueck. Ganz dicht kommt sie an dem kleinen Maedchen
vorbei, da sie sich nicht umdreht und hinten keine Augen hat.

Die Gesichter der beiden begegnen sich. Das kleine Maedchen
lacht vergnuegt. Ihre Milchzaehne strahlen. Die Mimik der
Frau bleibt voellig unveraendert. Stumm und regungslos zieht
sie ihre Bahnen, eine nach der anderen. Keine Abweichung. Das
Gesicht voellig unveraendert. Abends ist sie im Restaurant
wieder zu sehen. Das Buffet beginnt um sechs. Um fuenf Minu-
ten vor sechs hat sie sich mit ihrem Mann an einem Platz am
Fenster hingesetzt. Reservierungen im Voraus sind nicht
moeglich. Ihr Gesicht ist immer noch voellig unveraendert.

Ihr Mann hat ein frisch gebuegeltes gestreiftes Oberhemd an,
das niemals einen Koffer von innen gesehen haben kann. Sein
Scheitel ist praezise gezogen, der Faconschnitt der Haare
perfekt. Die beiden essen schweigend. Gemeinsam trinken sie
eine Flasche Mineralwasser. Das Gesicht der Frau ist voellig
unveraendert. Das des Mannes ebenfalls. Die beiden blicken
jeder fuer sich im Restaurant herum. Die spaeter Gekommenen
sitzen nicht am Fenster. Manche lachen, manchen schmeckt das
Essen sichtlich. Einige trinken Bier, wenige Wein. Ein
Glueck, dass wir nicht so sind wie die, denkt die Frau. Doch
ihr Gesicht bleibt voellig unbeweglich.

Jeder Tisch wie eine Monade. Der Individualismus feiert jetzt
auch hier seine Triumphe. Doch sein Schicksal ist das Gleiche
wie ueberall. Je mehr die Menschen sich von den anderen ab-
setzen moechten, umso groesser wird die Konformitaet. Jedem
Individualisten und Egoisten sitzen die anderen, von denen er
sich absetzen moechte, ganz tief im eigenen Fleisch. Und je
mehr er strampelt, um so staerker schmerzt es. Das Gesicht
bleibt jedoch voellig unveraendert.

Der Abend geht zu Ende wie alle anderen Abende auch. Das
Buffet ist gut abgeraeumt, niemand ist betrunken, niemand ist
laut geworden, niemand ist aus der Reihe gefallen. Alle
Gespraeche bei Tischlautstaerke. Bei Neckermann kostet es ein
paar Euro weniger als bei TUI. Da hat man das Geld fuer
Kaffee und Kuchen wieder heraus. Doch das Gesicht bleibt
unbeweglich.

Soll man sich Sorgen um so ein Land machen? Sicher, es wird
keine grossen Experimente mehr geben und die Herausforderun-
gen der Zukunft wird man nur mittelmaessig bestehen. Doch
fast alle Katastrophen der Geschichte sind aus Experimenten
und Aktionismus entstanden. Der Ueberflieger kann durchaus
abstuerzen. Doch der Sitzenbleiber findet in der naechst
niedrigeren Stufe seinen Platz.

Soll man sich also Sorgen machen? Nein, denn es geht alles
seinen geordneten Gang. Und den wird es auch weiter so gehen.
Es gibt nur eine Tragik, doch sie ist keine oekonomische Ka-
tegorie: Das Gesicht bleibt dabei voellig unbeweglich.

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Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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