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Alt 18-09-2005, 16:01   #100
621Paul
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The Island of the Disabled

Von Dr. Bernd Niquet

Heute ein paar Herbstimpressionen aus England. Weil wir ja
vielleicht auch bald eine Kanzlerin haben werden, und natuer-
lich, weil ich gerade dort in Britannien ein paar Runden ge-
dreht habe. Von Lady Thatcher total umgekrempelt, so so. Man
liest es immer wieder und man liest immer wieder zu viel, an-
statt den eigenen Augen zu trauen.

Doch vorerst konnte ich mit den Augen nichts erreichen, denn
das Geschehen spielte sich in meinem Ruecken ab. Ich stand
gerade auf der Seepromenade Sheerness auf der Insel Sheppey,
wenn man es ueberhaupt noch nennen darf, denn eigentlich ist
es nur ein Betonweg neben Betonmauern, um das kostbare Land
gegen die Flut zu sichern. Ich betrachte die Einsamkeit, die
Rauheit und die Haesslichkeit der Szenerie und bilde mir ein,
ploetzlich zu verstehen, warum der Schriftsteller Uwe Johnson
sich an diesem Ort umgebracht hat.

Ich zuecke den Fotoapparat und werde im selben Moment beinahe
von hinten ueberfahren, zudem von lauten Fluechen ueberzogen.
Unhoerbar hatte sich ein Rollstuhlfahrer von hinten genaehert
- und nun stand ich ihm ploetzlich im Weg. Zuerst etwas aer-
gerlich, kam ich wenig spaeter zu der Erkenntnis, gerade ei-
nen Blick in die Zukunft geworfen zu haben. Eine durchaus
wunderbare Zukunft. Denn es passierte ja noch mehr.

Auf dem Weg zurueck zum Auto Rollstuhlfahrer auf dem Buerger-
steig in Zweierreihen, in Margate vor dem Hotel-Restaurant
saemtliche Parkplaetze reserviert fuer die Disabled. Wer
nicht behindert ist, muss also hinter dem Hotel parken. Und
in Broadstairs schliesslich ein ganzes Schaufenster dekoriert
mit Aufklebern fuer die Disabled. Rollstuhlzeichen der ver-
schiedensten Groessen und Farben, Schilder wie "Disabled
Driver" und viele sonstige Dinge noch. Die Betreffenden park-
ten begeistert davor und schauten.

Was ist anders auf der Insel als hier? Bei uns regieren die
Hunde die Gruenflachen und die Autos den Rest. Dieser Laerm
und diese andauernde Gefahr! Welche Wohltat dagegen das leise
Surren eines Rollstuhls! Keine Aggressionen, kein politischer
Extremismus. Friede und Verstaendigung. Keine Experimente,
schon gar nicht politisch. Unuebersehbare Risiken auch lieber
nicht. Ruhe und Ordnung sind die hoechsten Gueter.

Wuerden wir doch nur unsere Politiker auch saemtlich in
Rollstuehle verfrachten. Und die Triebtaeter gleich mit dazu.
Die Flakhelfergeneration stirbt nun aus, der Rest hat ohnehin
nichts Wichtiges zu berichten. Und in England ersetzen die
Rollstuhlfahrer die Kriegsveteranen. Die Opfer des Wohlstan-
des die Opfer des Mangels. Und dann diese unsaegliche demo-
graphische Komponente. Die Insel macht uns vor, wo die wirk-
lichen Wachstumsmaerkte zu finden sind. Es ist wie in der Mu-
sik. Das, was dort heute passiert, schwappt zu uns erst Jahre
oder Jahrzehnte spaeter herueber.

Ich habe einen Blick in die Zukunft erheischt, doch wo ist
sie bei uns? Und was streiten wir ueber nebensaechliche Dinge
wie Steuern? Die zentralen Themen sind andere. Das Comeback
des Rentners, auf allen Ebenen. Dem Normalen, dem Haftpflich-
tigen, das alles sichtbar. Und nicht zu vergessen, dem Wich-
tigsten, dem Rentier. Er allerdings unsichtbar, dafuer jedoch
der wichtigste Regent unserer Welt.

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Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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