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Alt 11-09-2005, 10:42   #99
621Paul
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Die Wirtschaft in der Zitronenpresse

Von Dr. Bernd Niquet

In der letzten Woche habe ich eine Theorie erfunden. Unsere
Wirtschaft, so behaupte ich, hat sich grundlegend gewandelt:
Bis in die Nachkriegszeit war die Versorgung mit Guetern das
beherrschende Problem der fuehrenden Wirtschaftsnationen. Der
Guetermarkt war folglich das Gravitationszentrum. Seitdem hat
sich eine entscheidende Veraenderung ergeben, denn heute ist
der Einsatz des Vermoegens zum neuen Regenten geworden. Das
erklaert, warum wir keine Inflation mehr beobachten, niedrige
Preise, niedrige Zinsen und niedrige Beschaeftigung haben.

Marc Faber vertritt eine ganz aehnliche These - und mit ihm
alle anderen, die ebenfalls eine pessimistische Grundhaltung
haben. Ueberall steht die Dominanz und die Groesse der Fi-
nanzmaerkte im Mittelpunkt: "Fuer meinen Geschmack", schreibt
Faber, "sind die westlichen Finanzmaerkte zu gross, vergli-
chen mit der realen Volkswirtschaft. Und es gibt auch zu
viele smarte Leute und Schaetzjaeger in der Finanzindustrie,
die es fuer den durchschnittlichen Anleger schwierig
machen, eine gute Performance zu erzielen ... Diese Trends
fuehren zu einem im Vergleich zur realen Wirtschaft ueberpro-
portionalen Wachstum der Finanzmaerkte. Wenn das so weiter-
geht - und ich bezweifle, dass das fuer immer so weiter geht
- werden die westlichen Industrienationen nur noch sehr wenig
(als Anteil am BIP) selbst produzieren, aber eine immer
groesser werdende Armee von Finanz-Zauberern wird ihre Tage
mit dem Handeln von Finanzinstrumenten wie Aktien, Anleihen,
Optionsscheinen und so weiter verbringen!"

Klare Sache fuer Faber also. Das kann eigentlich nicht gut
gehen fuer die Finanzmaerkte. Es muss eine Anpassung geben.
Und das kann eigentlich nur bedeuten, dass es eine Krise an
den Finanzmaerkten geben muss, um das Gleichgewicht wieder-
herzustellen. Doch die Geschichte lehrt uns, dass man Ent-
wicklung niemals antizipieren kann, dass das, was passiert,
wenn wirklich Epochales passiert, immer ueberraschend ge-
schieht. Gerade neulich ist mir das an einem anderen und sehr
gravierenden Beispiel noch einmal vor Augen gefuehrt worden.
Denn wie war das, als Hitler bei uns an die Macht kam? Jeder
dachte damals: hoechstens durch ein Putsch. Aber ein Umsturz
lag nicht in der Luft, waere voellig chancenlos gewesen. Nir-
gendwo stand jedoch zur Diskussion, dass das Verderben ver-
fassungsmaessig zur Macht kommen koennte. Das war denk-
unmoeglich! DENKUNMOeGLICH! Voellig absurd. Doch gerade das
geschah schliesslich.

Was ist also an obigem Ungleichgewicht fuer die meisten denk-
unmoeglich? Kann es nicht vielleicht sein, dass die Anpassung
zu einem neuen Gleichgewicht gar nicht ueber die Finanz-
maerkte, sondern durch die Wirtschaft ablaufen wird? Meine
Theorie suggeriert das - und meine Theorie ist damit um Laen-
gen umfassender als Fabers doch sehr einseitige Sichtweise.
Denn bei Faber sind die Finanzmaerkte stets nur ein - mehr
oder eben heutzutage weniger zutreffendes -Spiegelbild der
realen Wirtschaft. Bei meinem Modell hingegen dominieren die
Finanzmaerkte die Realwirtschaft. Und ich bin fest davon
ueberzeugt, dass diese Vorstellung die Realitaet wesentlich
besser erklaert als alles andere.

Wenn also die Finanzmaerkte die Realwirtschaft dominieren und
determinieren - und die Finanzmaerkte dem Geschehen in der
Wirtschaft bereits vorausgelaufen sind -, wie kann die Anpas-
sung der Wirtschaft dann vonstatten gehen?

Ich sehe zwei Wege: Der optimistische ist eine Ausweitung des
Wirtschaftsvolumens ueber die Menge. Das heisst, die Wirt-
schaft waechst gleichsam in den Vorlauf der Finanzmaerkte
hinein. Der pessimistische hingegen ist derjenige der Anpas-
sung ueber die Marge oder die Rendite. Das heisst: Die Wirt-
schaft wird von den Finanzmaerkten ausgepresst wie eine
Zitrone. Die Wirtschaft schrumpft oder stagniert, die Preise,
Zinsen und Beschaeftigung bleiben niedrig und sinken noch
weiter. Und genau dadurch werden die Ertraege des produktiven
Kapitals weiter gesteigert.

Eine Aschenputtelwirtschaft also. Die Guten ins Toepfchen
(der Finanzmaerkte), die Schlechten ins Kroepfchen (der Real-
wirtschaft). Die Finanzen sonnen sich im Glanz der Sterne und
die Menschen strampeln in der Zitronenpresse.

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Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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