Warum heute alles anders ist
Von Dr. Bernd Niquet
Viele Dinge sind isoliert betrachtet nur schwer zu verstehen.
Warum sind heute die Zinsen so niedrig? Warum die Arbeits-
losigkeit so hoch? Warum gibt es trotz exzessivem Geldmengen-
wachstum keine Inflation? Wenn wir die oeffentliche Diskus-
sion beobachten, dann merken wir, dass alle diese Fragen jede
fuer sich aus einem ganz speziellen Blickwinkel heraus be-
trachtet werden. Die Zinsentwicklung sei ein spezielles
Markphaenomen, eine Blase, die Arbeitslosigkeit bestehe auf-
grund einer Ueberregulierung des Arbeitsmarktes und beim In-
flationsthema ist man voellig ratlos. Dies sind einige von
vielen der gaengigen Erklaerungsansaetze. Hat man Magen-
schmerzen, dann muss also etwas mit dem Magen sein. Zwickt es
hingegen im Ruecken, dann muss man dort suchen, roentgen,
computertumographieren, kernspinnen, hineinschauen, herumwer-
keln.
Die grosse Kunst ist es nun, auf den ersten Blick unverbun-
dene Dinge auf einen Nenner zu bringen. Also gleichsam ein
"verbindendes Gesetz" zu finden. Das ist nur wenigen gelun-
gen. Freud war sicherlich einer von ihnen. Er hat gezeigt,
dass Magenbeschwerden und Rueckenziehen durchaus ein und die
selbe Ursache haben koennen. Keynes war ein anderer. Er hat
die verengte klassische Sichtweise, dass nicht geraeumte
Maerkte nur auf Marktineffizienzen zurueckzufuehren sind, da-
durch aufgebogen, dass er aufzeigt, dass Arbeitslosigkeit
eben nicht auf dem Arbeitsmarkt entsteht, sondern das Geld
hier den entscheidenden Einfluss ausueben.
Mir wird Adaequates nicht gelingen - und dennoch stoesst mir
etwas ins Auge, das hierfuer durchaus geeignet waere, jedoch
weder in der Theorie noch in der oeffentlichen Diskussion
auch nur ansatzweise eroertert wird. Es ist fast so etwas wie
ein Gravitationsprinzip oder ein Magnetismus, welcher jedoch
historischen Bedingungen unterworfen ist und dementsprechend
unterschiedlich wirkt in unterschiedlichen Epochen.
Ich unterscheide hierzu die Zwischen- und die unmittelbare
Nachkriegszeit auf der einen Seite (hierzu sage ich "frueher"
oder "damals") von unserer aktuellen Gegenwart auf der ande-
ren Seite. Damals hatten wir eine Nachhol- oder Mangelwirt-
schaft, heute hingegen eine Ueberflusswirtschaft. Das ist ei-
gentlich eine triviale und allseits bekannte Feststellung.
Doch uebertraegt man sie in allgemeine oekonomische Katego-
rien, dann ergibt sich durchaus Interessantes und Neues:
Frueher, also bis etwa zum Ende der Sechziger Jahre, regier-
ten die Guetermaerkte - seitdem jedoch haben die Vermoegens-
maerkte die Herrschaft uebernommen. Frueher war das entschei-
dende wirtschaftliche Problem die Bereitstellung von Guetern
- heute ist es die Anlage und Verwertung von Vermoegen. Frue-
her gab es nur geringe Vermoegen, aber einen riesigen Nach-
holbedarf an Guetern. Deswegen waren die Ersparnisse eine
wichtige oekonomische Groesse. Man brauchte sie dringend, um
die notwendigen Investitionen zur Gueterproduktion finanzie-
ren zu koennen. Heute hingegen gibt es riesige Vermoegen,
aber eine weitgehend gesaettigte Gueternachfrage. Die Erspar-
nisse sind daher sekundaer und die Guetermaerkte nur noch ein
Vehikel der Vermoegensmaerkte.
Noch praeziser auf den Punkt gebracht: Frueher zogen die Gue-
termaerkte die Vermoegensmaerkte hinter sich her. Heute hin-
gegen schieben die Vermoegensmaerkte die Guetermaerkte vor
sich her. Und noch enger gefasst: Damals regierte ein Gueter-
vakuum die Welt. Heute hingegen ist es ein Vermoegensberg.
Adaptiert man diese Loesung, dann gelingt es ploetzlich wie
von Zauberhand, alle am Anfang genannten speziellen Betrach-
tungen unter diesem allgemeinen Paradigma zu subsumieren: Das
Guetervakuum fuehrte zu tendenzieller Inflation, also hohen
Preissteigerungsraten, hohen Investitionen, hohen Zinsen und
hoher Beschaeftigung. Dieses Vakuum sog also gleichsam alles
in sich hinein. Der Vermoegensberg heutzutage bewirkt hinge-
gen das genaue Gegenteil. Er drueckt unter seiner Last alles
zusammen, weswegen wir niedrige Zinsen, niedrige Investitio-
nen, niedrige Preise und niedrige Beschaeftigung beobachten.
Der Sog der Gueter ist durch die Flutwelle der Vermoegen ab-
geloest worden. Die wirtschaftliche Welt musste damit eine
voellig andere werden. Die entscheidende Frage lautet nun:
Was folgt aus dieser Sichtweise fuer die Zukunft? In dieser
Hinsicht bitte ich jedoch um eine Woche Bedenkzeit und werde
mich erst am naechsten Wochenende an dieser Stelle dazu
aeussern koennen.
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Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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