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Alt 22-08-2005, 20:22   #290
Starlight
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Vioxx-Urteil: Merck hat Schmerzen

Nachdem Urteil im Vioxx-Prozess hatte so mancher Beteiligter selbst wohl eine Schmerztablette nötig. Den Pharmazeuten aus New Jersey hat die Schadenssummer von 253,4 Millionen Dollar kalt erwischt, und auch die Wall Street hatte damit nicht gerechnet. Die Folgen für den Konzern sind nicht absehbar, die Aktie rutscht am Montag weiter ab.

Man mag darüber streiten, wie sinnvoll das amerikanische Geschworenensystem in vielen Fällen wirklich ist. Laien ohne jedes Hintergrundwissen entscheiden Fälle, in denen es um Wirtschafts- und Bilanzbetrug geht oder, wie im Vioxx-Fall, um wissenschaftlich höchst komplizierte und umstrittene medizinische Zusammenhänge. Doch Laien hin, Geschworene her – das Urteil gegen Merck steht erst einmal: 253,4 Millionen Dollar muss der Konzern an die Witwe eines 59-jährigen Triathleten zahlen, der vor vier Jahren im Schlaf an Herzversagen starb. Er hatte seit acht Monaten Vioxx genommen.

Der Triathlet ist nicht das einzige Opfer von Vioxx. Im Gegenteil: Spätestens seit einem Jahr weiß man auch außerhalb der Merck-Zentrale um die gefährlichen Nebenwirkungen des Schmerz- und Arthritismittels, dass der Pharamzeut nicht umsonst vom Markt genommen und seither nicht mehr zurückgebracht hat. Dabei dürfte man das durchaus. Nach einer eingehenden Untersuchung hat die Zulassungsbehörde FDA erklärt, dass zwar Vioxx und das Konkurrenzpräparat Celebrex vom ebenfalls Dow-notierten Pharmazeuten Pfizer starke Auswirkungen auf das Herz-Kreislauf-System hätten, dass beide aber verkauft werden dürften. Allein Bextra, ein weiteres Pfizer-Präparat, müsse weiter aus dem Markt herausgehalten werden.

Dass Merck trotzdem Schadenersatz leisten muss, kommt indes nicht ganz überraschend. Schon seit einiger Zeit ist bekannt, dass Merck um einige Nebenwirkungen von Vioxx gewusste hatte, ohne auf Packung und Beipackzettel darauf hinzuweisen – nach Erkenntnis mehrerer Experten und Prozessbeobachter sollen finanzielle Überlegungen hinter der Vertuschung gestanden haben. So soll Merck (zu Recht) befürchtet haben, mit schärferen Warnhinweisen für Vioxx Marktanteile an Pfizer zu verlieren.

Dass Merck, wie auch andere Pharmazeuten, finanzielle Aspekte über den Dienst am Patienten stellen, ist ebenfalls nicht überraschend. Nicht zuletzt mit Unterstützung der Bush-Regierung sind die Preise für Medikamente in den letzten Jahren auf obszöne Niveaus gestiegen, in der Branche klingeln die Kassen wie nie zuvor. Insofern wird sich die Zahl derer, die dieser Tage mit Merck fühlen, in Grenzen halten.

Dennoch ist unklar, wie das Gericht die Schadenssumme von 253,4 Millionen Dollar bemessen hat, die der Witwe gezahlt werden sollen. Abgesehen davon, dass alles Geld der Welt den toten Sportler nicht wiederbringen wird und dass sich die trauernde Dame unsinnigerweise auf einen Schlag unter den reichsten Menschen des Landes wiederfindet, sprengt die Summe zahlreiche Richtlinien, weshalb Merck ein Einspruch vor einem höheren Gericht nicht schwerfallen wird.

Was dem Unternehmen letztlich droht, ist im Moment nicht abzusehen – schwere Zeiten stehen auf jeden Fall bevor. Denn bereits vor der Urteilsverkündung sah sich Merck 4200 weiteren Vioxx-Klagen gegenüber, es könnten jetzt noch mehr werden. Ein Gericht in New Jersey, wo bisher die meisten Klagen verwaltet werden, rechnet mit bis zu 100 000 Eingaben.

Analysten gingen bisher davon aus, dass Merck eine Schadenssumme von bis zu 18 Milliarden Dollar drohen könnte. Rückstellungen hat man bislang keine gebildet, jedenfalls nicht für die Zahlung an Hinterbliebene. Lediglich für die Begleichung von Gerichtskosten sind 675 Millionen Dollar reserviert.

Dass sich Merck nicht besser rüstet, könnte durchaus Strategie sein. Denn noch wartet das Unternehmen ab, nach Einschätzung des Klage-Anwalts Mark Lanier vermutlich bis September 2006. Dann werden seit dem Vioxx-Rückruf zwei Jahre vergangen sein, und danach können keine neuen Klagen mehr eingereicht werden. Merck, so Lainer, werde vermutlich dann alle Klagen auf einmal beilegen, wobei sich die Entschädigungssummer pro Fall nach der Zahl der Fälle richten werde.

Damit wäre die jetzt im Triathlon-Fall beschlossene Schadensummer ohnehin hinfällig. Dass die Aktie von Merck nach ihrem 8-Prozent-Sturz am Freitag zum Wochenbeginn erneut nachgibt, ergibt dennoch Sinn: Teuer wird Vioxx für Merck nämlich auf alle Fälle, und mit jeder weiteren Klage und jeder weiteren Schlagzeile wird es die gesamte Pharmabranche in Zukunft schwerer Profite zu konzentrieren.

Markus Koch - © Wall Street Correspondents Inc.
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