Einzelnen Beitrag anzeigen
Alt 04-08-2005, 20:49   #276
Starlight
TBB Family
 
Benutzerbild von Starlight
 
Registriert seit: May 2002
Beiträge: 33.345
Die Konjunktur zwischen Schein und Sein

Unter den vielen Faktoren, die den Handel an der Wall Street täglich bestimmen, sind vor allem die wichtig, die den Verbraucher betreffen. Da wäre zum einen der Ölpreis, der auf die Konsumausgaben drückt, da wären die persönlichen Einnahmen und da wäre – einmal im Monat – der Arbeitsmarkt, über den zum Wochenschluss wieder berichtet wird.

In den Tagen vor dem großen Arbeitsmarkt-Bericht wird viel spekuliert auf dem Parkett. Es gibt wichtige, hochoffizielle Schätzungen über die Zahl der neu geschaffenen Stellen (180 000 für Juli) und die Arbeitslosenquote (5,0 Prozent). Es gibt wöchentliche Erhebungen, die aber nur selten als Indikator für das „big picture“ zu gebrauchen sind (312 000 Erstanträge). Es gibt ferner private Studien, wie die von Challenger Gray & Christmas (7 Prozent weniger Entlassungen im Juli).

Solche Datensätze sind nicht immer unter einen Hut zu bringen, Schlussfolgerungen nur schwer zu treffen. Das liegt einerseits daran, dass manche Studie schon in sich unschlüssig ist. Challenger, beispielsweise, verkauft den Rückgang bei den Entlassungen als gute Nachricht, verweist aber darauf, dass das Niveau saisonal betrachtet dennoch außergewöhnlich hoch ist. Was macht man aus solchen Aussagen? Sind sie optimistisch oder pessimistisch zu interpretieren?

Ein Ansatz, der das Problem höchst unterschiedlicher Messungen erklärt, liegt darin, dass alle Umfragen und auch die offiziellen Datensammlungen der Behörden auf Stichproben beruhen. Und in einem Land, dass immer mehr gespalten ist – politisch wie sozial –, wird es nun einmal immer schwieriger, ein repräsentatives Feld zu finden, dessen Antworten sich zuverlässig hochrechnen lassen würden.

Das beweist eine aktuelle Umfrage vom renommierten Gallup-Institut. Dort hat man eine einfache Frage gestellt: „Wenn Sie das aktuelle Umfeld betrachten, glauben Sie, es ist leicht, einen guten Job zu finden, oder nicht?“

Die Antworten erstaunen: Denn während 39 Prozent der befragten Amerikaner das Umfeld am Arbeitsmarkt positiv betrachten und 58 Prozent eher pessimistisch gestimmt sind, gehen die Meinungen in unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen deutlich auseinander:

Unter den Republikanern nämlich finden ganze 59 Prozent den aktuellen Arbeitsmarkt „gut“, während nur 37 Prozent mit „schlecht“ antworten. Bei den Unabhängigen geben sich 33 Prozent optimistisch, bei den Demokraten nur noch 21 Prozent.

Nicht viel anders ist die Situation aufgeschlüsselt nach dem Einkommen: Unter den Amerikanern mit einem Jahresgehalt von mehr als 75 000 Dollar sehen 48 Prozent einen „guten Arbeitsmarkt“, in der Gehaltsklasse zwischen 30 000 und 75 000 sind es 37 Prozent. Unter denjenigen, die mit 20 000 bis 30 000 Dollar im Jahr nach Hause gehen sind 32 Prozent gut gestimmt, und in der niedrigsten Gehaltsklasse unter 20 000 Dollar sind es nur noch 27 Prozent.

Do drängt sich der Verdacht auf, dass viele besser gestellte Amerikaner die wirkliche Situation am Arbeitsmarkt – und in anderen Bereichen – verkennen und durch ein Wunschbild ersetzen. Das erklärt auch, warum die Wall Street zur Zeit auf dem höchsten Stand seit vier Jahren handelt und dabei nicht nur einen äußerst fragilen Arbeitsmarkt, sondern auch die historisch hohe Verbraucherverschuldung und das steigende Defizit weitgehend ignoriert.

So wird klar, dass sich mit optimistischen Wünschen eine Zeit lang gut leben und sogar Geld verdienen lässt. Allerdings wird der Zeitpunkt kommen, an dem handfeste Zahlen die oft unzuverlässigen Umfragewerte ersetzen. Das wird wohl nicht mit dem Arbeitsmarktbericht am Freitagmorgen stattfinden, der aufgrund statistischer Ungereimtheiten auch nicht das zuverlässigste Instrument zur Messung der aktuellen Job-Situation ist. Doch wird der Moment kommen, und die Börse wird die Folgen spüren.

Markus Koch - © Wall Street Correspondents Inc.
Starlight ist offline   Mit Zitat antworten