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Alt 24-07-2005, 08:23   #92
621Paul
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Angela Merkels Brezel-Strategie

Von Dr. Bernd Niquet

Am Sonntagnachmittag kehre ich mit dem Fahrrad von einer
schweren Bergetappe zurueck und fahre die kleine Strasse am
See entlang. Auf dem Fussweg kommt mir eine Frau entgegen.
Schon von weitem sehe ich, dass sie sehr attraktiv ist. Eine
Frau, hier und jetzt, alleine? frage ich mich. Und dann
spiele ich intern das Spielchen, das ich sehr oft bei aehn-
lichen Gelegenheiten spiele: Was wird sein, wenn man sich be-
gegnet? Wird man sich angucken, sich nicht beachten, weg-
schauen?

Als ich kurz vor ihr bin, spricht sie mich an. Vor Schreck
falle ich fast vom Rad. Was Sie mir sagt, bleibt mir fest im
Gedaechtnis. Sie sagt: "Brezeln, frische Brezeln."

Selbst am Sonntag bei der unverdaechtigsten aller Taetigkei-
ten dominiert also bereits das Oekonomische. Diese Frau,
denke ich, hat also ein Gewerbe angemeldet, eine Steuernummer
beim Finanzamt beantragt, besitzt detaillierte Kenntnisse im
Steuerrecht, ist Mitglied der Berufsgenossenschaft, hat die
Arbeitsschutzverordnungen gelernt, zahlt Beitraege bei der
IHK und hat dann Brezeln eingekauft. Im Grosshandel fuer ei-
nen mittleren zweistelligen Cent-Betrag. Und jetzt verkauft
sie sie fuer vielleicht zwei Euro. Das ist eine Gewinnspanne,
die kein traditionelles Industrieunternehmen erzielt - und
von der selbst die New Economy nur traeumen kann.

Und ploetzlich begreife ich: Genau das scheint es zu sein,
was Angela Merkel mit uns machen will. Wir muessen alles tun,
damit neue Jobs entstehen. Das ist Deutschlands Zukunft. Und
Deutschlands Zukunft heisst: Wir gehen den Weg der Amerikaner
nach - und beschaeftigen uns gegenseitig dadurch, indem wir
uns gegenseitig Brezeln, Plunderstuecke und Whopper verkau-
fen. Und zwar so lange, bis wir selbst wie Brezeln, Plunder-
stuecke und Whopper aussehen. Anschliessend lassen wir uns
dann etwas anderes einfallen, verpflichten die Brieftraeger,
in jeden Briefschlitz dieses Landes taeglich mindestens zwei
Kreditkarten einzuwerfen, verdoppeln die Eigenheimpauschale
und beginnen ebenfalls mit dem grossen Immobilienroulette.
Selbst die Mehrwertsteuererhoehung bringt dann keinen Schaden
mehr, wenn die Brezel immer zwei Euro kostet.

Das bringt zwei grundsaetzliche Fragen auf: Was macht eigent-
lich ein Land und eine Bevoelkerung reich? Und wie entstehen
Arbeitsplaetze?

Arbeitsplaetze entstehen, wenn etwas verkauft werden kann,
wobei sich ein Ueberschuss der Erloese ueber die Kosten er-
gibt - oder zumindest an ein Entstehen eines derartigen
Ueberschusses geglaubt wird. Reichtum hingegen entsteht nur
dann, wenn mehr produziert als verbraucht wird. Wenn also auf
der einen Seite die Unternehmen Teile ihrer Erloese in neue
Anlagen stecken und andererseits die Haushalte Teile ihres
Einkommens sparen. Wird hingegen mehr verbraucht als produ-
ziert und mehr konsumiert als verdient, dann entsteht Verar-
mung.

Es gibt mithin zwei Moeglichkeiten, Arbeitsplaetze zu schaf-
fen: Einmal in Verbindung mit der Schaffung vom Reichtum -
und ein anderes Mal mit Verarmung. Der erste Weg ist der asi-
atische Weg. Der zweite der amerikanische. Wir Europaeer ste-
hen in der Mitte. Was sollen wir tun? Sollen wir Merkels Bre-
zel-Weg gehen? Oder sollen wir nicht eher kaempfen und uns
gegen die vermeintliche Zwangslaeufigkeit unseres (amerikani-
schen) Schicksals stellen?


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Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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