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Alt 17-07-2005, 10:59   #91
621Paul
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Europa im Sommer

Von Dr. Bernd Niquet

Von allem befreit ein paar Tage an der Kueste. Fuer Politik
muss man sich nicht mehr interessieren. Es weiss zwar noch
niemand, ob es Neuwahlen gibt, aber jeder weiss, wie diese
ausgehen werden. Doch es ist voellig einerlei. Die Neue Re-
gierung macht das Gleiche wie die alte, egal welche es ist.
Dieses Einerlei befreit. Auch an die Boerse muss man nicht
denken. Sie steigt mit schoener Regelmaessigkeit weiter in
die Hoehe. Der Triumph der Finanzen ueber die Politik koennte
nicht ueberzeugender ausfallen. Wer jetzt keine Aktien hat,
wird lange keine haben.

In der Wirtschaft weitet sich die Regentschaft des Hamster-
rades aus. Wer nicht Ferien macht, muss strampeln, um sein
Leben strampeln. In Holland ist ein ganzes Land "te huur" und
"te koop". Verhuren und auf den Kopf hauen? Nein, zu mieten
und zu kaufen. Ausdruck wirtschaftlicher Schwaeche oder von
Ueberspekulation im Immobilienmarkt?

Am Meer ist es erstaunlich leer. Auch ein Anzeichen wirt-
schaftlicher Schwaeche - oder sind die Menschen alle in der
Karibik? Normale Ferien gibt es nicht mehr. Es muss rund um
die Uhr getrunken, gegessen und sich amuesiert werden. Das
Hamsterrad muss laufen - volle Geschwindigkeit voraus. Der
ganze Strand ist gesaeumt von Restaurant-Buden. Doch das
reicht nicht: Bei Ebbe fahren von Treckern gezogene Verkaufs-
wagen den Strand entlang, halten, es wird die Glocke geschla-
gen: Noch ein wenig Appetit? Geht noch ein wenig Lust hinein?
Noch ein Beduerfnis unbefriedigt?

Wer kein Eis oder Fischbroetchen in der Hand hat, der haelt
ein Segel zum Surfen. Die anderen fliegen oder reiten auf der
Banane. Die schoenen Jahre gehen so schnell vorbei.

Die Jugend wirkt gelangweilt, luemmelt sich auf Stuehlen und
Liegen, ist jedoch ausgesprochen hoeflich. Der Protest als
Attituede, im tiefsten Inneren eine formbare Masse. Das Handy
als Minifest der persoenlichen Freiheit.

Waechst Europa zusammen? Waechst die westliche Welt zusammen?
Amerikaner reden doppelt so laut wie Europaeer. Die meisten
wirken wie grosse Kinder. Wie lange werden sie noch das Sagen
haben? Die Hollaender haben die europaeische Verfassung abge-
lehnt. Wer in Amsterdam auf dem Fahrplan nach Zuegen sucht,
die die Landesgrenzen ueberschreiten, ist auf einen Extra-
Plan verwiesen. "Internationale Zuege" steht da, es ist nicht
mehr als eine Hand voll. Erstaunlich fuer ein Land im Zentrum
Europas. An der Grenze muss der Zug die Lok wechseln wie auf
dem Weg nach Moskau. Die Spurbreite stimmt zwar ueberein,
doch die Stromsysteme sind verschieden.

Man kann sich ueber alles aufregen und muss dies dennoch
ueber nichts. Es ist wie eine riesige Kaeseglocke, die ueber
uns allen haengt. Die grossen Konflikte liegen lange hinter
uns. Oder ist schlichtweg einfach Sommer? Wohl dem, der we-
nigstens im Sommer keine anderen und wirklich brennenden Sor-
gen hat. Und selbst wenn es brennt - in 999.999 von einer
Millionen Faellen brennt es bei jemand anderem und nicht bei
einem selbst. Dann kann man sich schon gruseln vor dem Fern-
seher - und denkt: Wie gut es uns doch geht.

Doch dann guckt man hinunter: Der Bauch ist zu dick, die
Fuesse geschwollen, die Braeune nicht ueberzeugend. Kann man
mit dem eigenen Urlaub bestehen? Muss man nicht eigentlich
unzufrieden sein? Aber bald ist Herbst, da ist man es so-
wieso.


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Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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