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Alt 07-07-2005, 20:35   #256
Starlight
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Die Börse trauert, der Dow Jones nicht

Wenn an den New Yorker Börsen überhaupt etwas von den Londoner Terror-Anschlägen zu sehen ist, dann vor allem draußen vor der Türe. Da haben sich Polizeiwagen aufgereiht, um das ohnehin bestens bewachte Gebäude zusätzlich zu sichern. Im Innern, auf dem Parkett, hat sich die Lage mittlerweile beruhigt, der Handel läuft wie gewohnt.

Wie gewohnt, das bezieht sich auch auf die Kursschwankungen. Gegen Mittag notiert der Dow-Jones-Index mit einem Minus von 30 Zählern, und das ist nun wirklich keine erschütternde Bilanz für einen Tag, der von einem der größten Terror-Anschläge der letzten Jahre geprägt ist. Im Gegenteil: Angesichts eines Minus von fast 200 Punkten, das die Dow-Futures im vorbörslichen Handel noch verzeichnet hatten, läuft es ausgesprochen gut an der Wall Street.

Wie kommt’s? Nun, streng genommen war nichts anderes zu erwarten. Man will ja – weder an der Börse noch in den Finanzmedien – kalt und herzlos klingen, doch ist unstrittig, dass die Anschläge wenig Folgen für Konjunktur und Unternehmen haben dürften. Ausnahmen gibt es natürlich. Die Aktien der Fluggesellschaften verlieren ebenso wie die Hotelpapiere, weil der Tourismus nach Terroranschlägen gewöhnlich zumindest für einige Zeit einbricht. Auch die Versicherer geben nach, da sie für Schäden aufkommen müssen.

Die negativen Reaktionen dieser Aktionen sind aber ebenso wenig markttypisch wie die positiven Reaktionen eines anderen Sektors: Die Aktien verschiedener Hersteller von Sprengstoffdetektoren sowie von Sicherheits- und Überwachungssystemen legen zu, lassen den breiten Markt aber unberührt.

Dass der breite Markt nicht stärker auf die Londoner Anschläge reagiert, ist auf die überschaubaren Folgen für die Wirtschaft zurückzuführen. Selbstmordattentäter leiten weder eine Rezession ein, noch lassen sie den Immobilien- oder Arbeitsmarkt einbrechen. Entsprechend ist es an diesem Donnerstag auch nicht das erste Mal, dass die Wall Street verhalten auf große Ereignisse reagiert.

Man nehme die jüngsten Terror-Anschläge seit dem 11. September 2001. Der Angriff auf das New Yorker World Trade Center und das Pentagon in Washington hatte die Börse bekanntlich richtig aus der Bahn geworfen. Nicht zuletzt die Tatsache, dass die Börsen nach dem Anschlag tagelang geschlossen und die amerikanischen Finanzmärkte weitgehend unerreichbar blieben, ließ den Dow binnen weniger Tage um fast 20 Prozent auf 7926 Punkte abrutschen. Nach einer kurzen Erholung ging der Abwärtstrend – gefördert eher von einer Rezession als von den Attentaten – weiter und kam erst mehr als ein Jahr später, am 10. Oktober 2002, auf ein Tief von 7533 Punkten.

In die folgenden Monate, als sich der Dow kontinuierlich nach oben arbeitete und schließlich wieder fünfstellig notierte, fielen die Terror-Anschläge in Indonesien am 12. Oktober 2002 und in Kenia am 28. November 2002, bei denen insgesamt 220 Menschen getötet wurden. Beide Anschläge hatten an der Wall Street keine Auswirkungen, die Erholung blieb intakt, ebenso wie bei den Anschlägen in Saudi-Arabien und Marokko im Mai 2003 und in der Türkei im November 2003.

Als jüngstes Beispiel für die maßvollen Reaktionen der Börse auf Terror gelten die Anschläge in Madrid, wo am 11. März 2004 zehn Bomben gezündet und 292 Menschen getötet wurden. Der Dow gab am Tag der Anschläge ganze 170 Punkte ab. Immerhin 110 Punkte machten die Blue Chips am nächsten Tage aber wieder gut, und rückblickend blieb auch damals der Handelstrend intakt.

Letztlich wird es mit den Kursverlusten an diesem Donnerstag nicht anders sein. Auf einem später zu erstellenden Jahres-Chart werden sie nicht auffallen. 30 Punkte? – Ein pessimistischer Analyst kann auf dem Parkett mehr Schaden anrichten, von einem steigenden Ölpreis oder den Wirbelstürmen im Golf von Mexiko ganz zu schweigen.

Dass sich die Anschläge von London im Dow nicht widerspiegeln, soll indes nicht heißen, dass New York über die schrecklichen Geschehnisse einfach hinwegsieht. Im Gegenteil: Die Stimmung auf dem Parkett ist gedrückt. Nirgendwo sonst können die Menschen mehr nachvollziehen, was es bedeutet, wenn Terroristen zuschlagen und Menschen im direkten Umfeld getötet werden. An der Wall Street arbeitet niemand, der nicht ständig mit Erinnerungen an den 11. September 2001 konfrontiert wird. Keiner, der heute nicht in Gedanken bei den Opfern in London und bei allen Briten ist. Allein eine Trauerbezeugung im Dow verkneift man sich eben.

Markus Koch - © Wall Street Correspondents Inc.
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