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Alt 29-06-2005, 21:20   #249
Starlight
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Gottes Segen für Scrushys Betrug

Amerika hat die Nase voll vom Milliardenbetrug in den Chefetagen. Ganz Amerika? Nein – ein kleines Fleckchen in den Südstaaten stellt sich gegen den Trend: In Alabama hat zur Wochenmitte eine Geschworenen-Jury den früheren CEO des Gesundheitskonzerns HealthSouth in 36 Betrugspunkten freigesprochen. Die meisten Experten halte das Urteil für einen Skandal.

Ein besonderer Rückschlag ist der Freispruch von Richard Scrushy für die Befürworter des neuen Bilanzgesetzes Sarbanes-Oxley. Dieses zwingt CEO und Finanzchef seit drei Jahren, die Quartals- und Jahresbilanzen persönlich abzuzeichnen und später auch zu verantworten. Da Bilanzbetrug in Höhe von 2,7 Milliarden Dollar bei HealthSouth nach Einführung von Sarbanes-Oxley aufgeflogen war, hätte Scrushy als erster amerikanischer Top-Manager unter den neuen Vorschriften zu höheren Strafen verknackt werden können.

Doch es kam ganz anders: Der Staatsanwaltschaft letztlich ist der größte Fehler vorzuwerfen, der zu Scrushys Freispruch führte. Statt den CEO nämlich vor einem Bundesgericht in Washington, D.C. anzuklagen – was durchaus möglich gewesen wäre, denn Scrushy hat HealthSouth-Papiere bei der in der Hauptstadt ansässigen Börsenaufsicht SEC eingereicht – trat man vor einem lokalen Gericht in Alabama an. Die Jury bestand aus zwölf einfachen Bürgern, die von Bilanzbetrug im Grunde so wenig verstehen wie New Yorker Geschworde vom Baumwollpflücken.

Dafür kannten die Geschworenen den Angeklagten. Nicht persönlich, natürlich, das wäre nicht erlaubt gewesen. Doch gibt es in Alamaba – und erst recht nicht am Gerichts- und HealthSouth-Sitz Birmingham kaum einen, der Scrushy nicht kennt. Schließlich steht der Name des Philantropen an zahlreichen Häusern, Straßen und Plätze sind nach ihm benannt… und dann wäre da noch die Kirche.

In der Kirche hat sich Scrushy besonders engagiert, seit die Betrugsvorwürfe seiner Karriere bei HealthSouth ein Ende gemacht hatten. Scrushy ließ sich beim örtlichen Fernsehsender eine religiöse Talkshow einrichten und er trat einer überwiegend schwarzen Gemeine bei, um seiner Demut vor dem Herrn wöchentlich Ausdruck zu geben. Den Leuten in Alabama gefällt so etwas. Der Staat ist tief religiös, und dass man zwar vor dem himmlischen Herrn Respekt hat, die staatlichen Behörden aber nicht leiden kann – viele der Schwarzen in Alabama stammen von Sklaven ab –, machte den Behörden die Anklage nicht leichter.

Dabei hätte man eigentlich leichtes Spiel gehabt. Srushy hat nämlich, im Gegensatz zu zahlreichen verurteilten CEO-Kollegen wie John Rigas von Adelphia, Bernie Ebbers von WorldCom oder Dennis Kozlowski von Tyco eine dicke Beweisspur hinterlassen, mit der sich leicht aufzeigen ließ, wie und wo der Chef und seine Finanzleute die Bilanzen gefälscht und einen 2,7-Milliarden-Dollar-Betrug orchestriert hatten.

Doch nicht nur Beweise, auch Zeugen hatte die Anklage in eigentlich ausreichendem Maße. Alle fünf HealthSouth-Finanzchefs, mit denen Scrushy im Laufe seiner Karriere gearbeitet hatte, sagten übereinstimmend aus, wie der CEO die Zahlen polieren ließ und wie man „von Übertreibungen schließlich zu glattem Betrug“ gewechselt habe, um die hoch gesteckten Erwartungen der Aktionäre zu erfüllen.

Den Geschworenen kann es nicht leicht gefallen sein, die Finanztricksereien eines Gesundheitskonzerns irgendwie nachzuvollziehen. Auch dürften sie erhebliche Schwierigkeiten gehabt haben, die Schwere des Verbrechens nachzuvollziehen, bei dem es weder Tote noch Verletzte gab. Dass hunderttausende von Aktionären Geld verloren, als HealthSouth vor dem Bankrott stand, dürfte der Jury zu abstrakt gewesen sein.

Letztlich führte das dazu, dass zwölf Leute in Alabama den größten Gönner der Stadt und bibeltreuen Prediger Richard Scrushy in allen Anklagepunkten freisprachen. Scrushy dankte später in einer Presseerklärung vor allem Gott, was da schon nicht mehr überraschend war.

„Jede andere Jury, ob in Washington oder in New York, hätte Scrushy verurteilt“, meint John Coffee von der angesehenen Columbia Law School. Und sein Kollege Arthur Gross-Schaefer von der Loyola Marymount University in Los Angeles pflichtet bei: „Ein Freispruch in allen Punkten, das ist wirklich Besorgnis erregend.“

Wie skandalös der Richterspruch ist, der übrigens nicht angefochten und nur in einem Zivilprozess zumindest relativiert werden kann, zeigt auch eine Umfrage bei CNBC am Mittwochmorgen. Von den ansonsten eher managementfreundlichen Zuschauern meinten satte 90 Prozent, dass Scrushy zu Unrecht davongekommen sei. Nur 10 Prozent hielten das Urteil für angemessen.

© Wall Street Correspondents Inc.
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