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Alt 19-06-2005, 10:54   #88
621Paul
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Wie in den Dreissiger Jahren?

Von Dr. Bernd Niquet

Natuerlich ist heute sehr vieles voellig anders als zur Zeit
der grossen Weltwirtschaftskrise in den Dreissiger Jahren des
letzten Jahrhunderts. Und trotzdem sind einige Paralleli-
taeten erschreckend. Ich sehe ich der Hauptsache Folgendes.

(1) Damals wie heute hatten wir eine riesige Boersenhausse
mit grotesker Ueberspekulation und anschliessendem heftigen
Zusammenbruch.

(2) Im Anschluss daran erlebten wir damals wie heute den Ein-
tritt in ein deflationaeres Szenario - und dies beide Male in
Verbindung mit einer extremen Fehlhaltung der Politik, zumin-
dest hierzulande. In den Jahren nach 1929/1930 zeigte sich
die Geldpolitik weltweit viel zu restriktiv. Einerseits
konnte man aus den Fesseln des Goldstandards nicht heraus,
andererseits wollte man auch gar nicht anders handeln. Der
Schrecken hiess damals wie heute "Inflation", weswegen die
einsetzende deflationaere Tendenz sogar freudig begruesst
wurde.

Niemand konnte sich jedoch tatsaechlich eine Deflations-
spirale vorstellen. Damals wie heute. Und was die Geldpolitik
in den Dreissiger Jahren verbockt hat, das verbockt heute die
Fiskalpolitik. Wir versuchen, in der Krise das Budget zu kon-
solidieren, reagieren auf sinkende Preise und Nachfrageaus-
fall nicht mit einem Gegensteuern, sondern mit Kostensenkun-
gen, die ihrerseits zu erneuten Preissenkungen und Nachfrage-
rueckgaengen fuehren und weiter fuehren werden.

(3) Als Reaktion darauf "fransen" die Raender unseres politi-
schen Spektrums immer weiter aus. Damals wie heute. Man
braucht kein Prophet zu sein, um prognostizieren zu koennen,
dass die Union, die derzeit versucht, es allen recht zu
machen, mindestens genauso so schwer scheitern wird wie die
SPD. Derzeit formiert sich gerade eine neue Linke in der
Folge des Schiffbruchs der SPD. Was wird jedoch 2009 (oder
frueher) passieren, wenn die Union gescheitert ist?

Die grossen Volksparteien waren stark im Aufschwung, weil sie
die Faehigkeit gezeigt haben, die Interessen zu buendeln,
jeden mitzunehmen, jedem etwas zu geben. In der Rueckwaerts-
bewegung wird aus der damaligen Staerke nun jedoch eine
Schwaeche. Denn die Volksparteien schaffen es nicht, das
Fuellhorn zu schliessen und die Perspektive auf das wirklich
Notwendige zu verengen. Alles, was weh tut, fuehrt zur sofor-
tigen Abwahl und staerkt die grossen Illusionisten auf der
linken wie rechten Seite.

(4) Es gibt jedoch einen einzigen Garanten fuer die Stabili-
taet unser gegenwaertigen Welt - und das sind die von so vie-
len verhassten und kritisierten Vereinigten Staaten von Ame-
rika. Die lockere Geldpolitik und das Leistungsbilanzdefizit
der USA halten die halbe Welt wirtschaftlich ueber Wasser.
Sie sind die Muttermilch, von der wir alle leben. Das ist der
grosse Unterschied zu den Dreissiger Jahren des letzen Jahr-
hunderts. Heute gibt es einen "Big Spender" und "Lender of
last resort". Damals gab es das nicht, deswegen sind damals
die Lichter ausgegangen. Heute gibt es das, deswegen sieht es
heute vergleichsweise gut aus.

Die grosse Frage ist daher, wie lange das so weitergeht.
Meine Tochter hat vier Jahre gebraucht, um von der Milch-
flasche wegzukommen. In Europa schreiben wir heute bereits
das Jahr fuenf nach dem Crash. Bis heute ist alles gut gegan-
gen. Bei einem so extremen Verhalten und einer so einseitigen
Ernaehrung werden die Risiken jedoch jeden Tag groesser.

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Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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