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Alt 15-06-2005, 20:50   #237
Starlight
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Die Öl-Krise an der Wall Street

An der Börse hakt es am Mittwoch wieder einmal. Alles was man bräuchte, um den Lauf der Aktien ein wenig geschmeidiger zu machen, wäre ein Tröpfchen Öl. Dass die Opec am Morgen in Wien die Förderquoten um eine halbe Million Fass pro Tag aufgestockt hat, hilft dem Markt nicht. Denn es bleiben zu viele Unsicherheiten.

Zum einen wäre da die Frage nach den tatsächlichen aktuellen Förderquoten. Am Markt herrscht die Ansicht vor, dass die Opec durch ihre jüngste – und in diesem Jahr bereits fünfte – Anhebung der Förderquoten lediglich den Abstand zwischen den offiziellen und den realen Mengen verkürzt hat. Experten gehen davon aus, dass das Kartell zur Zeit ohnehin nicht 28 Millionen Fass pro Tag auf den Markt bringt, sondern knapp unter 30 Millionen Fass.

Außerdem gehen Experten immer mehr davon aus, dass die Opec damit ihre Kapazitäten erreicht hat. Während sich die Öl-Minister der arabischen Staaten mit steter Regelmäßigkeit darauf berufen, dass man durchaus fast unbegrenzt mehr fördern könnte und nur die Kapazitäten in den Raffinerien beschränkt seien, gibt es immer mehr Gegenstimmen. Zahlreiche Experten glauben, dass die Pumpen der Opec auf allen Zylindern laufen, und selbst die schon immer üblichen Reserve-Kapazitäten für Notfälle ausgeschöpft seien.

Die Analysten bei Cambridge Energy Research Associates (CERA) schätzen die Reserve-Kapazitäten auf höchstens 1,5 Millionen Fass, und damit ware es um die globale Öl-Versorgung wirklich schlecht bestellt. Immerhin steht die Hurrikan-Saison vor der Tür, in der Jahr für Jahr Öl-Plattformen beschädigt und Kapazitäten zumindest zeitweise beschnitten werden. Zudem ist die politische und wirtschaftliche Lage im Irak und in anderen Öl fördernden Ländern alles andere als beruhigt. Versorgungsengpässe können nicht ausgeschlossen, durch die Opec aber offensichtlich auch nicht abgefangen werden.

Dazu kommt, dass die globale Öl-Nachfrage ohnehin so stark zunimmt, dass die Kapazitäten schon auf kurze Sicht nicht mehr ausreichen dürften. Die boomenden Volkswirtschaften in China und Indien haben bereits im vergangenen Jahr für ein Nachfragewachstum von 4,5 Prozent gesorgt – einen solchen Sprung hatte es zuvor nie gegeben. Und selbst in einer konservativeren Schätzung geht CERA davon aus, dass der Bedarf im laufenden Jahr um 1,8 Millionen und in 2006 noch einmal um 1,7 Millionen Fass pro Tag zunehemen dürfte.

Zum Vergleich: Im historischen Mittel ist Nachfrage nach Öl bisher jedes Jahr um 1,4 Millionen Fass pro Tag gestiegen.

Dass die Raffinerien ausgelastet sind und eine – wie auch immer unsichere – stärkere Versorgung mit Rohöl gar nicht verarbeiten könnten, führt langfristig zu zusätzlichen Problemen: Immerhin können Unternehmen und Verbraucher mit Rohöl alleine nichts anfangen, sondern fragen weiterverarbeitete Produkte wie Benzin oder Heizöl nach. Vor allem nach Benzin dürfte die Nachfrage künftig noch schneller wachsen als nach dem Rohstoff selbst: Allein im vergangenen Jahr wurden in China 15,1 Prozent und in Indien 7,2 Prozent mehr Sprit verbraucht.

Damit käme eine weitere Problematik ins Spiel: Der höhere Verbrauch an Benzin sorgt für immer stärkere Emmissionen, die trotz mehrerer beruhigender Meldungen aus dem Weißen Haus die Erderwärmung noch schneller vorantreiben als befürchtet. Doch während das langfristig die größte Sorge für die Menschheit sein dürfte, kümmert sich die Wall Street um diesen Faktor am wenigsten. Zunächst geht es einfach darum, das Öl zu bekommen – und vor dem Hintergrund sinkender Lager und unzureichender Kapazitäten steigt damit der Ölpreis. So notiert das schwarze Gold am Mittwochmittag bei 56,45 Dollar, was die US-Börsen ausbremst.

Markus Koch - © Wall Street Correspondents Inc.
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