22.05.05
Er hat es tatsaechlich gemacht!
Von Dr. Bernd Niquet
Manche Dinge werden niemals Realitaet, andere hingegen pas-
sieren so schnell, dass man sich kaum versieht. Am letzten
Wochenende habe ich geschrieben, dass es doch einmal gut
waere, wenn ein prominenter Meinungsmacher unserer neuen Ka-
pital-Religionsbewegung sich oeffentlich ans Kreuz schlagen
und von dort den Menschen seine Predigt halten wuerde. Und
schon am selben Tag muss es passiert sein, denn am Wochenende
konnten wir bereits die Andacht des Chefredakteurs der "Welt
am Sonntag" druckfrisch von der Kanzel pfluecken.
Handelt es sich bei den Firmenaufkaeufen ueber die Boerse um
ein krasses Beispiel von Raubtierkapitalismus? fragt Chefre-
dakteur Christoph Keese in seinem Leitkommentar. Nein, sagt
er, "Kapitalismus ist eine grosse Demokratiebewegung, die
kleinen Anlegern Macht ueber grosse Konzerne verschafft ...
Deswegen ist der Finanzmarkt auch ein Ort der Begegnung und
oft der Solidaritaet."
Also, ich habe nun wirklich schon die irrwitzigsten Dinge in
meinem Leben gehoert. Dass der Finanzmarkt jedoch ein Ort der
Begegnung und der Solidaritaet sei, verschlaegt regelrecht
den Atem. Ich denke, wir sollten ehrlicher mit der Wirklich-
keit umgehen. Alles andere bringt nichts. Man darf die Men-
schen nicht mit romantischem Unsinn betruegen. Die Wirklich-
keit an den Finanzmaerkten ist brutal und gemein, doch es
gibt keine Alternative zu diesem System. Man kann nur versu-
chen, es korrekt zu verstehen - und in Teilbereichen zu zaeh-
men. Der Schleier der Romantik muss weg! Ein dritter Weg je-
doch wuerde zielstrebig in die Dritte Welt fuehren.
Was mich allerdings am meisten bedrueckt, ist, dass gerade
das dieses Beispiel zeigt, dass die Meinungsfuehrer ueber-
haupt nicht begriffen zu haben scheinen, was sie da predigen.
Deswegen benutze ich auch den Begriff Religion. Denn hier
wird nur nachgebetet, was andere vorgebetet haben. Verstanden
wird es anscheinend nicht. Wie hat Kant so unuebertrefflich
ueber die Religion geschrieben: Ich musste das Wissen aufhe-
ben, um fuer den Glauben Platz zu schaffen. Bei unseren Mei-
nungsfuehrern im bereich Wirtschaft passiert gegenwaertig
genau das Gleiche.
Ein Beispiel mag das illustrieren: "Ressourcen werden ueber
den Finanzmarkt", schreibt Keese zu den Firmenuebernahmen,
"von dort, wo sie uebrig sind, dorthin transportiert, wo man
sie braucht." Das ist natuerlich voellig irrig. Das geht
naemlich nicht. Abgesehen davon, dass Kapital-Ressourcen nir-
gendwo "uebrig" sind, bedeuten Uebernahmen der Aktienmehrheit
an Unternehmen keinesfalls einen Kapitaltransfer in das ent-
sprechende Unternehmen. Es aendert sich einfach die Eigentue-
merstruktur. Die Aktien wechseln die Besitzer. Und da wird
nichts nirgendwo hin transportiert.
Dass hier Kapitalien, die vorher nicht gebraucht werden,
ploetzlich einer produktiven Verwendung zugefuehrt werden,
ist schlichtweg falsch. Das ist ein Pfeifen im Wald, wider
das bessere Wissen oder im Einklang mit der eigenen Unwissen-
heit. Ein Wolkenkuckucksheim, um uns den Biss der Heuschrecke
als harmloses Geplaenkel vorzufuehren.
Apropos Heuschrecken: Da habe ich in der vergangenen Woche
doch tatsaechlich gefunden, dass das ein Bibelzitat ist. Ob
Herr Muentefering das wusste? Ich habe das Zitat aus dem
Theaterstueck "Top Dogs" von Urs Widmer. Dort taucht es je-
denfalls als Bibelzitat auf. Nachpruefen kann ich das nicht.
Es lautet: "Und Heuschrecken kamen auf Erden, und ihnen ward
Macht gegeben wie die Scorpione auf Erden Macht haben. Und es
ward ihnen gegeben, dass sie nicht toeteten, sondern sie
quaelten. Und die Menschen werden den Tod suchen und nicht
finden ..."
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Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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