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Alt 01-05-2005, 11:51   #73
621Paul
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Deutschland - gefangen zwischen Ideal und Untergang

Von Dr. Bernd Niquet

In dieser Woche haben die Wirtschaftsforschungsinstitute ihr
Fruehjahrsgutachten vorgelegt. Ich war bei der Praesentation
dabei - und habe ganz genau hingehoert. Denn die Argumenta-
tion der Wissenschaftler ist wirklich interessant.

Deutschland befindet sich nicht in einer konjunkturellen
Krise, sagen die Forscher. Es gibt auch keinen Strukturbruch
bei den Investitionen. Wir haben einfach ein Wachstumsprob-
lem. Das Trendwachstum in Deutschland liegt bereits seit An-
fang der 90er Jahre zu niedrig.

Heraus kommen wir da nur, so die Institute, wenn die Reformen
weiter gehen, wenn wir die Wachstumskraefte staerken, der
Staatshaushalt konsolidiert und die Staatsquote gesenkt wird.
Doch wie soll das funktionieren? muss man jetzt fragen. Ers-
tens reformieren wir bereits seit etlichen Jahren wie zu
Luthers besten Zeiten. Und zweitens, wenn jetzt auch noch der
Staatsverbrauch zurueckgeht, wer soll dann ueberhaupt noch
als Nachfrager auftreten?

An dieser Stelle muss ich noch einmal auf das theoretische
Weltverstaendnis der herrschenden Lehre der Wirtschafts-
wissenschaft eingehen. Zum letzten Mal fuer einige Zeit, ich
verspreche es. Doch es ist wirklich so wichtig.

Bei voellig flexiblen Preisen und vollkommenen Maerkten
herrscht - bis auf eine gewisse Sucharbeitslosigkeit - ten-
denziell stets annaehernd Vollbeschaeftigung, so das Weltbild
unserer herrschenden Lehre. Denn jede Veraenderung wird durch
Preisanpassungen sofort korrigiert. Gehen Produktion und Be-
schaeftigung temporaer zurueck, dann sinken die Preise und
die Nominal-Loehne, womit der Realwert des Einkommens und da-
mit auch die Nachfrage stabil bleiben. Und letztlich ist
nichts passiert; der Markt hat alles wieder korrigiert und
angepasst.

Abweichungen von diesen Anpassungsmassnahmen kann es nach
dieser Sichtweise nur dann geben, wenn die Maerkte nicht
richtig funktionieren - sprich: Wenn die Preise und Loehne
nicht flexibel genug reagieren. Aus diesem Grund - UND GENAU
AUS DIESEM GRUND - wird heute ein Reformprogramm nach dem an-
deren eingefordert. Sobald nur alle genug flexibel sind, wird
sich alles zum Guten wenden, erzaehlen uns die Politik, die
Wissenschaft und die Unternehmerverbaende an jedem Tag stets
von neuem.

Was allerdings kaum jemand dabei thematisiert, ist, dass hier
auch das Geld, die Zeit und die Erwartungen eine Rolle spie-
len. In Zeiten grosser Unsicherheit und negativer Zukunfts-
erwartungen wird Geld gehortet - bei den Haushalten in Form
von Nichtkonsum und bei den Unternehmen als nicht investierte
Gewinne. Gewinne, die an den Kapitalmaerkten angelegt, ins
Ausland verschoben oder sonst wo gebunkert werden. Und ein
Angstsparen bei den Haushalten, das genau die gleiche Wirkung
hat.

Die Nachfrage faellt aus, und die Reformprogramme machen aus
der kleinen Krise recht bald eine grosse Krise. Ein ganzes
Volk dreht sich selbst durch den Fleischwolf. Und uebrig
bleiben lauter Schnitzel, von denen die einen nur noch den
Untergang sehen - und die anderen ebenso zwanghaft am selbst-
konstruierten Ideal der Selbstheilungskraefte des Marktes
festhalten. Und wenn das eben nicht funktioniert, dann ist
keineswegs die Theorie schuld, sondern dann muessen dem Markt
nur erst recht Beine gemacht werden.


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Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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