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Alt 30-04-2005, 15:51   #72
621Paul
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24.04.05

Mehr Beschaeftigung nur ueber Wachstum?

Von Dr. Bernd Niquet

Ein Dogma beherrscht unsere Gesellschaft. Es ist so fest ein-
zementiert, dass es sogar die kirchlichen Dogmen hinter sich
laesst. Dieses Dogma lautet: Neue Arbeitsplaetze gibt es nur
ueber Wachstum. Das klingt natuerlich auf den ersten Blick
sehr plausibel. Ein Mehr an Arbeitsplaetzen kann nur aus ei-
nem Mehr an Sozialprodukt entstehen. Wenn man mehr Wasser im
Teekessel haben moechte, dann muss man den Wasserhahn erneut
aufdrehen. Es gibt nach einer dunklen Nacht erst dann wieder
Helligkeit, wenn die Sonne morgens aufgegangen ist.

Der letzte Satz zeigt, wie falsch auch die auf den ersten
Blick einleuchtendste Weisheit sein kann. Denn die Sonne geht
nicht auf, sie ist der Fixpunkt unseres Universums. Wer also
ueber das Auf- und Untergehen der Sonne redet, der redet
theoriefern, der redet fuer Kinder, der redet in der Alltags-
sprache, die zwar trefflich fuer den Alltag geeignet ist,
aber spaetestens dann scheitern muss, wenn es gilt, eine
wirklich entscheidende Frage wissenschaftlich zu loesen.

Und genauso ist es mit der Arbeitslosigkeit. Das ist eine
wirklich wichtige Frage. Und wie wird darueber geredet? Ich
habe keine Patentloesung anzubieten; ich mache nur eine kurze
Bestandsaufnahme. Und diese zeigt: Es gibt keine einzige
Wirtschaftstheorie, die die Beschaeftigungsfrage mit Wachstum
verknuepft. Das muss man sich erst einmal auf der Zunge zer-
gehen lassen. Daher noch einmal:

Es gibt keine einzige Wirtschaftstheorie, die die Beschaefti-
gungsfrage mit Wachstum verknuepft. Alle Wirtschaftstheorien,
die den Weg von der Unterbeschaeftigungssituation zur Vollbe-
schaeftigungssituation thematisieren, sind statische Theori-
en. Das heisst: Das Thema Arbeitslosigkeit sowie das Thema
der Verbesserung dieser Situation wird dadurch analysiert,
indem statische Situation miteinander verglichen werden, in-
dem "Maengel" aufgedeckt und Beseitigungsprozesse simuliert
werden. Doch Wachstum hat mit allem nichts, aber auch gar
nicht zu tun.

(Der Vollstaendigkeit halber sei angefuegt: Sobald diese
Theorien dynamisiert werden, um Wachstumsprozesse zu analy-
sieren, setzt man jedoch das, was eigentlich gezeigt werden
soll, naemlich dass es Vollbeschaeftigung geben kann, (durch
die Annahme einer gegebenen Ressourcenmenge) immer bereits
voraus. Doch wenn ich Vollbeschaeftigung voraussetze, dann
kann ich keine Unterbeschaeftigung analysieren. Das ist si-
cherlich leicht einzusehen.)

Das heisst: Unsere gesamte oeffentliche - wie wissenschaft-
liche - Diskussion ueber das zentrale Problem unserer Volks-
wirtschaften geschieht im voellig theoriefreien Raum. Das
weist einerseits auf eine kolossale Unwissenheit der oeffent-
lichen Meinungstraeger und andererseits auf eine voellige
Degenerierung der Scientific Community. Warum ist das so?
Weil es entsetzlich schwierig ist, die Grundlagen des wirt-
schaftswissenschaftlichen Denkens klar herauszuarbeiten. Weil
es moeglicherweise keine positive Theorie gibt, die einen Weg
zum Abbau der Arbeitslosigkeit aufzeigt. Und weil es letzt-
lich viel einfacher ist, die eigenen Interessen durchzusetzen
als die Dinge gegeneinander abzuwaegen.

Dabei ist jeder Zugang zur Wirtschaft, jede einzige wirt-
schaftliche Erkenntnis, stets nur durch den Blick einer theo-
retischen Brille moeglich. Wir alle haben diese Brillen auf,
doch gleichzeitig bestreiten wir alle in nicht zu uebertref-
fender Heftigkeit, eben keine Brille aufzuhaben, sondern der
Wirklichkeit direkt ins Auge zu sehen. Dies ist einerseits
ein ernuechternder Befund, andererseits jedoch vielleicht
auch gar nicht so schlecht. Mein akademischer Lehrer, Hajo
Riese, sagt an dieser Stelle immer: Der Unterschied zwischen
Sozialismus und Kapitalismus ist, dass letzterer auch ohne
die Einsicht der Wissenschaft funktioniert. Oder anders for-
muliert: Dem Markt ist es egal, was man ueber ihn denkt. Er
funktioniert voellig unabhaengig davon.

Und ich bin geneigt, darauf noch einen draufzusetzen: Viel-
leicht ist eine gewisse Unfaehigkeit, den Markt zu verstehen,
sogar ein wichtiges Systembestandteil jeder Marktwirtschaft.
Denn wenn die einen nicht daemlich waeren, dann koennten die
anderen keine ueberdurchschnittlichen Gewinne erwirtschaften.
Die wirkliche Tragik liegt also wie immer bei allen Marktge-
schichten in der Verteilungsfrage.


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Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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