Einzelnen Beitrag anzeigen
Alt 21-04-2005, 20:15   #203
Starlight
TBB Family
 
Benutzerbild von Starlight
 
Registriert seit: May 2002
Beiträge: 33.345
Die NYSE schreitet in die Zukunft

Nach beinahe historischen Kursstürzen in den letzten Tagen wird in dieser Woche an der New York Stock Exchange auch im positiven Sinne Geschichte geschrieben: Das Traditionshaus an der Wall Street übernimmt die elektronische Handelsplattform Archipelago und macht damit einen großen Schritt in die Zukunft.

So überraschend die Übernahme am Mittwochabend gemeldet wurde – noch Minuten vor der Pressekonferenz reichten die Gerüchte von einem einfachen Handelsabkommen mit Archipelago bis hin zu einer Übernahme der Chicagoer Optionsbörse –, so sehr hatten Insider doch seit Jahren auf eine Modernisierung der bekanntesten Finanzinstitution der Welt gewartet.

Dort will man wohlgemerkt nicht mit alten Traditionen brechen. So bleibt der Parketthandel mit dem für die Wall Street typischen Spezialisten-System bestehen. Doch gewinnt der elektronische Handel an Bedeutung, was vor allem Kleinanlegern einen großen Vorteil verschafft. Die Kundenbasis für die NYSE dürfte künftig deutlich größer sein, was wiederum die übrigen elektronischen Plattformen wie E-Trade und Instinet, aber auch die Nasdaq und die ebenfalls im Finanzdistrikt am Südzipfel Manhattans beheimatete American Stock Exchange in Bedrängnis bringen dürfte.

Unter Druck wird auch die International Securities Exchange geraten, die ironischerweise erst vor sechs Wochen unter dem Tickerkürzel ISE ausgerechnet an der NYSE notierte.

Die Konkurrenz dürfte die Neuerungen an der NYSE vor allem deshalb zu spüren bekommen, weil sich das Traditionshaus auf breiter Sicht verbessert. Hatte man bereits seit einem halben Jahr über einen früheren Handelsbeginn diskutiert, löst sich dieses Problem beispielsweise in Luft auf: Auf Archipelago wird der Handel auch weiterhin um 4 Uhr früh beginnen, das Parkett wird dennoch erst um 9.30 Uhr geöffnet.

Auch wird die NYSE künftig mehr eigene Produkte anbieten. Hatte sich die Traditionsbörse bislang sehr auf den bloßen Handel mit Aktien spezialisiert, will man nun verstärkt Optionen und Derivate anbieten.

Dass es wiederum künftig Aktien für die NYSE Group – so heißt das neue Unternehmen, das zunächst zu siebzig Prozent den 1366 NYSE-Mitgliedern und zu dreißig Prozent den Archipelago-Aktionären gehören wird – geben wird, verschafft der Börse einen Vorteil, den die Konkurrenz in aller Welt seit langem nutzt. Konkurrierende Börsen in London und Frankfurt, in Sidney und Toronto sind seit mehreren Jahren börsennotiert, und auch die Nasdaq hat eigene Papiere. Die NYSE hingegen litt zuletzt eher unter ihrem Sonderstatus als selbst regulierende Behörde und nicht profitorientiertes Unternehmen, als sie davon profitiert hätte.

Profitorientiertes Arbeiten dürfte das 212 Jahre alte Haus nun auch dauerhaft an der Spitze der internationalen Handelsplätze halten, ist sich NYSE-CEO John Thain sicher. Und mit seiner Meinung ist er nicht alleine, wie ein Blick auf einige Aktien am Donnerstagmorgen zeigt: Abgesehen von satten Zugewinnen um 60 Prozent für das Papier von Archipelago verbessern sich auch die Aktien von LaBranche und Van der Moolen. Die beiden Spezialistenhäuser gehören zu den größten Anteilseignern an der NYSE und sollen mit Bargeld und Aktien an der neuen NYSE Group abgefunden werden. Zumindest kurzfristig dürfte das den beiden Häusern zugute kommen, allein, langfristig ist ihre Zukunft ungewiss. Schließlich kann niemand garantieren, dass sich angesichts der jüngsten elektronischen Verstärkung der NYSE das Spezialisten-System auf dem Parkett ewig halten lässt.

Gegen die neue Unternehmensstruktur dürften sich die Spezialisten dennoch nicht sträuben. Insider erwarten, dass der Merger von NYSE und Archipelago im vierten Quartal des laufenden oder spätestens im ersten Quartal des nächsten Jahres über die Bühne gehen wird. Vorher muss indes außer den Aktionären und Mitgliedern auch die Börsenaufsicht SEC ihre Zustimmung geben.

Geht der Deal schließlich über die Bühne, gehört übrigens Goldman Sachs zu den großen Gewinnern. Das Brokerhaus, dessen Zögling der jetzige NYSE-Chef John Thain ist, war in Vorbereitung einer Partnerschaft von NYSE und Archipelago für beide Seiten beratend tätig und dürfte wohl auch bei einem IPO der Gruppe federführend sein.

Der Wert der NYSE Group ist übrigens nicht offiziell bekannt, Insider schätzen ihn jedoch af 3 bis 3,5 Milliarden Dollar. Die 1997 gegründete Plattform Archipelago hat zurzeit eine Marktkapitalisierung von 885 Millionen Dollar.

© Wall Street Correspondents Inc.
Starlight ist offline   Mit Zitat antworten