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Alt 07-03-2005, 20:28   #179
Starlight
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Die Wall Street rätselt über die Affäre Stonecipher

So menschlich ist die Wall Street: Harry Stonecipher, der 68-jährige CEO von Boeing, hatte eine Affäre mit einer Mitarbeiterin. Das wurde nach einem anonymen Tipp bekannt. Der gemütliche Fernsehabend mit seiner Ehefrau dürfte am Wochenende wohl ins Wasser gefallen sein, und seinen Top-Job ist Stonecipher auch los.

So einfach könnte das Schicksal eines CEO besiegelt sein. Ein moralischer Patzer muss gesühnt werden, und für einen der wichtigsten Firmenlenker in Corporate America ist ein Rücktritt wohl das probate Mittel.

So einfach ist die Sache aber nicht. Die Wall Street hakt nach. Warum genau muss Stonecipher gehen? Sicher, auch US-Präsident Bill Clinton wäre fast – wohlgemerkt: fast – über eine Affäre gestürzt. Doch ging es seinerzeit um eine Beziehung mit einer jungen Praktikantin. Dann wurde über Monate hinweg die Öffentlichkeit belogen. Und nicht zuletzt hatte der demokratische Präsident die Republikaner gegen sich, die mit ihrem Feldzug gegen den Sittenverfall im Weißen Haus die christliche Rechte hinter sich sammeln und letztlich – mit Erfolg – das Weiße Haus erobern wollten.

Stonecipher hingegen soll ein Verhältnis mit einer Frau gehabt haben, der er im Unternehmen nicht direkt vorstand. Die Affäre soll in beiderseitigem Willen geschehen sein. Die Öffentlichkeit dürften die Bettgeschichten einers CEO eigentlich gar nichts angehen, und angeichts seines hohen Alters hätte man Stonecipher sicher auch eine Rücktrittserklärung unter Angabe ganz anderer Gründe nahelegen können: Einen stillen Rückzug aufs Altenteil hätte man dem 68-Jährigen sicher abgenommen.

Außerdem hatte sich Stonecipher um Boeing verdient gemacht. Nicht zuletzt hat die Aktie unter seinem Vorsitz um rund fünfzig Prozent zugelegt. Unter seiner Führung holte der Konzern trotz der immer stärkeren Konkurrenz durch den europäischen Gegner Airbus noch so manchen Großauftrag, und seit einigen Tagen haben sich auch die Beziehungen zum Pentagon entspannt, die für den Rüstungsarm des Unternehmens so wichtig sind.

Apropos Pentagon: Eine Affäre mit dem Verteidigungsministerium in Washington hatte Stoneciphers Vorsitzenden Gary Condit das Amt gekostet, wenngleich es nicht um außereheliches Vergnügen ging. Zwar hatte nicht Condit persönlich aber immerhin sein Finanzvorstand einer hochrangigen Pentagon-Mitarbeiterin einen lukrativen Job im Unternehmen versprochen, wenn diese Boeings Stand als Rüstungslieferant verbessern könnte.

Der Deal gelang zunächst, flog dann aber auf. Und da solcherlei Mauscheleien nun wirklich ein Skandal sind und die Rechnungsprüfer der Regierung das auch bestätigten, wurde Condits Abschied von der Wall Street als absolut notwendig akzeptiert.

Stonecipher sprang danach ein, die Unternehmensmoral wieder aufzupolieren. Dass man an ihn höhere Maßstäbe anlegen würde, war damit klar. Und doch ist nicht nachvollziehbar, was das Management in der Presseerklärung zu Stoneciphers Abschied am Morgen veröffentlicht. Der Vorstand erkenne, dass „die Affäre ein schlechtes Licht auf Harry’s Urteilsvermögen wirft, und dass seine Fähigkeiten, das Unternehmen zu führen, beeinträchtigt sind.“

Angesichts all der Skandale, die die Wall Street in den vergangenen Jahren beobachtet hat – Milliarden-Diebstahl in Tyco’s Chefetage, Lug und Trug bei Worldcom, Bilanzfälschung bei Enron, Insiderhandel bei Martha Stewart, … – ist das schlicht und einfach Quatsch.

So ist es kein Wunder, dass die Aktie von Boeing am Montag verliert. Aktionäre verurteilen damit nicht das Lotterleben eines Seniors, vielmehr fragen Sie: Was sind die wahren Gründe für Stoneciphers Rücktritt? Wird ein wirklicher Skandal erst in den nächsten Tagen bekannt? Oder zeugt der Vorgang doch nur vom schlechten Urteilsvermögen des Vorstandes und ist damit ein Vorbote für anhaltende Schwäche bei dem Dow-Konzern?

Markus Koch - © Wall Street Correspondents Inc.
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