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Alt 16-01-2005, 12:45   #31
621Paul
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Kommt dieses Mal doch alles voellig anders? 16.01.2005

Von Dr. Bernd Niquet

Es ist nur wenige Jahre her, da haben wir in Deutschland den
groessten Sturz der Aktienkurse in der juengeren Geschichte
unseres Landes - und nahezu aller seiner Rechtsvorgaenger -
erlebt. Der Crash am Neuen Markt ist historisch fuer Deutsch-
land ohne Vergleich - und selbst die Talfahrt der DAX-Werte
stellt den Verlust im Zuge der Weltwirtschaftskrise von 1929
bis 1933 noch deutlich in den Schatten.

Normalerweise sind nach derartigen, wirklich epochalen
Aktienkrisen eine ganze, wenn nicht gar mehr Generationen
fuer ihr gesamtes Leben vom Aktienmarkt vertrieben. Das
bedeutet: Die naechste wirkliche Hausse am Aktienmarkt kann
sich erst dann ergeben, wenn die Erinnerung an das fatale
Geschehen getilgt ist - und dies geschieht gemeinhin nicht
durch Vergessen, sondern durch das Aussterben der Beteilig-
ten. Erst spaetere Generationen, die all das nicht mehr mit-
erlebt haben, werden dann wieder Mut fassen und sich in neue
spekulative Ueberhitzungen treiben lassen.

Was die vergangene Krise jedoch von allen anderen Krisen der
gesamten Weltgeschichte unterscheidet, ist zweierlei: Erstens
ist wirtschaftlich nichts passiert, die gigantische Boersen-
krise ist nicht mit einer ebensolchen Wirtschaftskrise Hand
in Hand gegangen. Und zweitens: Die Vermoegensbestaende des
privaten Sektors sind heute so gross, dass selbst ein Kurs-
verlust der Aktien von einmaligem historischen Ausmass nahezu
voellig unmerklich weggesteckt wird. Das ist fuer die meisten
nicht mehr als eine Schramme am Kotfluegel ihres neuen Ge-
laendewagens. Wir sind alle so unglaublich reich, dass selbst
so etwas den meisten nicht wirklich etwas ausmacht.

Heute reden wir sogar schon wieder vom Anlagenotstand! Das
muss man sich einmal vorstellen: Die groessten Verluste aller
Zeiten - und trotzdem wissen die Leute schon heute nicht
mehr, wohin mit ihrem Geld. Das geht sogar so weit, dass
viele bereits wieder Sehnsucht nach einem Crash haben, um
noch einmal billig in die Maerkte hinein zu kommen. Ver-
gleichbares hat es in unserer gesamten Geschichte noch nie-
mals gegeben. Ich kann mir jedenfalls kaum vorstellen, dass
in der Gruenderkrise nach 1870 oder in den Dreissiger Jahren
des letzten Jahrhunderts auch nur eine Hand voll Menschen
eine Crashromantik besessen haben - oder sich diesen sogar
aus kalkulierten finanziellen Motiven gewuenscht haben.
"Alles, nur das nicht noch einmal", wird man sich damals
gedacht haben.

Heute ist das freilich ganz anders. Und es sieht so aus, als
ob es mittlerweile ein voelliges Missverhaeltnis zwischen der
Groesse des Aktienmarktes und des Vermoegensbestandes des
privaten Sektors gibt. Ein Aktienmarktcrash ist gesamtwirt-
schaftlich nicht mehr als ein Pullerzucken oder ein laestiger
Achselschweiss. Das wird weggesteckt als haette nur der
Dienstbote eine Briefmarke aus der Portokasse fuer eigene
Zwecke veruntreut.

Die Gegenposition zum Vermoegen der privaten Haende ist nicht
mehr das Produktivvermoegen, sondern die Passivseite von Ban-
ken und Finanzinstituten - sowie vor allem die Verbindlich-
keiten des Staates. Viele Vermoegen sind daher unrealisier-
bare Luftvermoegen, weil den Forderungen gleich hohe Verbind-
lichkeiten uns selbst gegenueber entsprechen. Der Abfede-
rungseffekt von Krisen, den wir heute beobachten, ist also
vielfach kuenstlich. Im Stossdaempfer befindet sich ein Do-
pingmittel - und dieses Dopingmittel hat eine Halbwertszeit,
die kleiner ist als die lange Frist. Damit funktioniert der
Stossdaempfer derzeit allerdings praechtiger als praechtig.

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Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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