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Alt 09-01-2005, 17:08   #26
621Paul
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Sonntag, den 09.01.2005

Macht und Ohnmacht der Zahlen

Von Dr. Bernd Niquet

Egal, ob Naturkatastrophe oder boersennotiertes Unternehmen.
Alles laesst sich sehr trefflich in Zahlen ausdruecken. So
ist die komplexe Wirklichkeit eines weltweit verzweigten Kon-
zerns letztlich auf eine einzige Zahl zu reduzieren, naemlich
den erwirtschafteten Gewinn. Und die Schrecklichkeit einer
Naturkatastrophe auf die Zahl ihrer Opfer. Aber nein, voellig
richtig ist das nicht. Noch wichtiger ist, dass diese Zahl
auch wahrgenommen wird. Katastrophen, die nicht durch die
Medien gehen, die gibt es nicht. Man muss also das, was man
sieht, stets einordnen und hinterfragen.

Heute moechte ich einmal eine vergleichsweise milde Katastro-
phe einzuordnen und zu hinterfragen versuchen, naemlich die
vermeintliche deutsche Bildungskatastrophe. In einem Kommen-
tar der Financial Times Deutschland in der letzten Woche
tauchten zum Beweis der Ueberforderung grosser Teile der
Bevoelkerung hinsichtlich der gegenwaertigen Reformdebatte
folgende Zahlen auf: "So konnten sich von 1004 befragten
Jugendlichen und jungen Erwachsenen 38 Prozent nichts unter
dem Begriff Globalisierung vorstellen. 40 Prozent wussten
nichts mit sozialer Marktwirtschaft anzufangen, und satte
zwei Drittel koennten das Prinzip von Angebot und Nachfrage
nicht erklaeren."

Das klingt natuerlich auf den ersten Blick schrecklich und
hoffnungslos. Doch wenn man einmal einen weiterfuehrenden
Gedanken riskiert und sich fragt, wie diese Zahlen wohl
zustande gekommen sein moegen, schaut alles bereits voellig
anders aus. Nichts unter dem Begriff "Globalisierung" vor-
stellen - wie koennte man so etwas messen? Nehmen wir einmal
renitente Personen wie mich, die eine derartige Befragung
sowieso absichtlich torpedieren wuerden, aus der Betrachtung
heraus.

Da ruft also jemand an oder fragt auf der Strasse: "Koennen
Sie sich etwas unter "Globalisierung" vorstellen?" Und wer
dann "nein" sagt, kommt in die negative Wertung? Und wer "Ja"
sagt, in die positive? Nein, so kann es wohl kaum laufen.
Also muss man fragen "Was verstehen Sie unter "Globalisie-
rung"?" Doch wer will hier eine richtige von einer falschen
Antwort unterscheiden? Wenn ich antworte "Die Globalisierung
der Produktionsverhaeltnisse", so ist das zwar keine Antwort,
wird aber sicherlich als richtig gezaehlt.

Ich selbst wuesste nicht, wie ich die Frage beantworten
sollte. Denn "Globalisierung" ist ein Schlagwort fuer eine
neue Entwicklung, die jedoch gar nicht neu ist, da die Inter-
nationalisierung des Handels und der Produktion bereits meh-
rere Jahrhunderte hinter uns liegt. Also was ist "Globalisie-
rung"? Die Verstaerkung des Trends zur immer schon bestehen-
den Globalisierung? Der Fall der internationalen Kapitalver-
kehrskontrollen? Der Fall der Mauer zwischen Ost und West?

Die wirklich erstaunliche Zahl der genannten Umfrage ist also
nicht, dass 38 Prozent nichts mit dem Begriff "Globalisie-
rung" anfangen koennen, sondern dass 72 Prozent dies anschei-
nend koennen. Und bei der Sozialen Marktwirtschaft ist es
noch extremer. Denn die 40 Prozent, die hiermit nichts an-
fangen koennen, liegen natuerlich voellig richtig. Es gibt
naemlich keine Soziale Marktwirtschaft mehr, seitdem der
internationale Konkurrenzmechanismus ueberall Marktpreise
durchsetzt - und damit alle Uebergewinne, die sich (frueher
einmal) verteilen liessen, beseitigt hat. 60 Prozent der
Jugend und jungen Erwachsenen koennen also anscheinend etwas
anfangen mit Sachen, die es gar nicht mehr gibt. Diese 60
Prozent werden jedoch positiv gewertet, was gleich in doppel-
tem Sinne nicht fuer einen aufgeklaerten Geisteszustand
spricht.

Und wie die Testfrager bei der letzten Frage nach dem Mecha-
nismus von Angebot und Nachfrage zwischen richtigen und fal-
schen Antworten unterschieden haben, wuerde ich gerne einmal
wissen. Doch das hat sicherlich mehr mit einem Film à la
Monty Python zu tun als mit allem anderen. Das neue Jahr
startet also nicht weniger grotesk als das alte Jahr aufge-
hoert hat. Die Bloedmaenner bleiben sich jedoch selbst
wenigstens treu.

++++++

Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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